Mann Ohne Makel
vierzehn Tagen bestellte. Warum bewahrte Ulrike diesen Werbebrief auf? Die Enzyklopädie kostete trotz des Rabatts immer noch eine Menge. Es folgte das Faltblatt eines Supermarkts, Ulrike, wer sonst, hatte einen Rasenmäher mit blauem Kuli angekreuzt. Was wollte sie mit einem Rasenmäher, sie hatte keinen Garten? Unter dem Faltblatt fand er eine Mappe aus blauer Pappe. Darin eine Seite, herausgerissen aus dem Spiegel, über die SS-Totenkopfverbände. Erstaunlich, Ossi konnte sich nicht erinnern, dass Ulrike jemals Interesse an Geschichte gezeigt hatte. Unter dem Artikel ein Blatt Papier, darauf eine Skizze. Sie begann, von oben betrachtet, mit einer senkrechten Linie, diese stieß etwa in der Mitte des Blatts auf eine waagerechte Linie. Von dieser zweigten parallel vier senkrechte Linien nach unten ab. Am Fuß der rechten Linie stand »Maximilian Holler«.
Ossi saß da. Er brauchte einen Augenblick, bis er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Er starrte auf das Blatt, die Skizze sah aus wie ein Familienstammbaum. Aber es standen keine Namen darauf außer dem des Maklers. Er drehte das Blatt nach allen Seiten. Was hatte sich Ulrike gedacht, als sie diese Skizze anfertigte, mit Bleistift und Lineal? Vielleicht wollte sie Opfer und Verdächtige grafisch in eine Beziehung zueinander setzen. Wenn es so war, warum stand Hollers Name unten rechts? Welche Namen sollten an den anderen Linien stehen? Ob es nur eine Spielerei war? Ossi malte oft Unsinn auf Papier oder Pappe, wenn er sich konzentrierte. Viele taten es, offenbar auch Ulrike. Ossi lehnte sich zurück, dachte daran, wie sie zusammengesessen hatten, um gemeinsam nachzudenken über Verbrechen, Verdächtige und Spuren. Ulrike hatte die meiste Fantasie von ihnen allen gehabt.
Wenn man allein ist, mag einen überschäumende Fantasie in die Irre führen, im Team löst sie oft verfahrene Situationen. Anfangs hatte Ossi sich hin und wieder gewundert über Ideen, die Ulrike nach langem Schweigen äußerte. Aber er begriff schnell, dass sie klug war und ihre Ideen die Rufbereitschaft weiterbrachten. Entweder indem sie die Ideen widerlegten oder, wenn Ulrike sich nicht umstimmen ließ, sie ihren Ideen folgten. Ossi hatte Ulrike oft beneidet, sie hatte eine besondere Stellung im Team. Jeder hörte zu, wenn sie etwas sagte. Das war in der Hektik des Polizeialltags nicht normal. Ossi fiel ein, was Ulrike tat, wenn sie sich konzentrierte. Sie zeichnete nicht, formte keine Papierkügelchen wie Taut und starrte auch nicht wie abwesend an die Decke wie Kurz. Sie hatte eine Murmel in der Hand, die sie knetete. Manchmal klickerte die Murmel auf den Boden, Ulrike erschrak und suchte, bis sie die Murmel wieder gefunden hatte.
Was war es dann? Hatte Ulrike etwas herausgefunden und wollte es sich in einer Skizze vor Augen führen, bevor sie ihre Kollegen unterrichtete? Er blätterte den Stapel weiter durch, fand nichts, was ihn interessierte. Er nahm den Stapel und legte ihn zurück auf die Schreibtischplatte. Er kam sich vor wie ein Eindringling. Es war ihre Wohnung. Aber sie war tot. Hinterlassen hatte sie eine Mappe mit einer Skizze und einem Namen. Holler war der Einzige, den Ulrike verdächtigte. Einen anderen Verdächtigen kannte Ossi auch nicht.
Er fuhr zurück zum Präsidium und mühte sich, keinen Unfall zu verursachen. Zurück in der Mordkommission wäre er an der Tür fast mit Taut zusammengestoßen. »Wir haben ihn!«, brüllte er. »Wir haben ihn!«
»Wen?«, fragte Ossi.
»Den Mercedes!«
***
Die Knie schmerzten, als er die Treppe hochstieg. Stachelmann blieb auf einer Etage stehen, die Schmerzen blieben. Er ging weiter. Auf einem Emailleschild erkannte er den geschwungenen Namenszug: Derling. Die Leute, die man besuchen wollte, wohnten immer ganz oben. Stachelmann schnaufte. Er wartete einige Minuten, bis sein Atem sich beruhigte. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haarlocken und überlegte, ob es besser gewesen wäre, zum Friseur zu gehen. Er sah seine Hand zittern, als er den Finger zum Klingelknopf führte. Er hörte die Klingel in der Wohnung, sie klang wie eine Glocke, bim-bam. Dann hörte er Schritte, ruhig und leicht. Die Tür wurde geöffnet, Licht schien durch den Spalt, dann strahlte ihn Anne an. Sie sah aus, als wollte sie ausgehen. Frisch geschminkt und frisiert.
»Fast hätte ich dich nicht erkannt«, sagte sie. »Warum stehst du im Dunkeln?«
Erst jetzt bemerkte Stachelmann, dass das Licht im Treppenhaus längst ausgegangen war. »Ach, ich
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