Mann Ohne Makel
geworden. Es versprach eine laue Sommernacht zu werden, selten in Hamburg, wo es meist kühl wurde, wenn die Sonne verschwand. »Gehen wir noch irgendwohin, auf ein Bier?«, fragte Ossi.
Ulrike lachte ihn aus fröhlichen Augen an. »Gute Idee«, sagte sie. »Wohin?«
»Da hinten, dann um die Ecke und ein paar Meter weiter gibt es einen Italiener, wo man draußen sitzen kann …«
»Und ich kein Bier trinken muss«, sagte Ulrike. Sie hakte sich bei Ossi ein, er genoss die Berührung. Dann stutzte sie und sagte: »Warte mal, ich muss noch mal zu meinem Auto, eine Jacke holen. Oder willst du meine Zähne nachher klappern hören?« Sie ging zur Hindenburgstraße, die Fußgängerampel war grün. Sie betrat den Zebrastreifen. Aus einer Querstraße schoss ein schwarzer Mercedes heraus und raste auf den Zebrastreifen zu. Ossi sah es, begriff erst nicht, dann schrie er: »Ulrike, Achtung! Ein Auto!« Sie hörte nichts, war in Gedanken versunken, der Verkehr lärmte. Sie flog durch die Luft wie eine Puppe, als der Wagen sie traf.
IV
»Verstehen Sie mich richtig, Herr Stachelmann«, sagte Bohming. »Ich habe mit allen Leuten viel Geduld, besonders mit meinen Kollegen.« Er nannte seine Mitarbeiter gerne Kollegen. »Ich habe mich für Sie eingesetzt, aber nicht einmal ich kann alle im Seminar davon überzeugen, dass Sie die beste Habil hinlegen seit Menschengedenken und dass die eben ein bisschen länger dauert. Ich höre die Signale, die hier und da ertönen, und fürchte, sie werden nicht leiser. Wir müssen sparen, der Senat macht uns fix und fertig. Und was glauben Sie, was passiert, wenn die anderen hier nach den Wahlen ans Ruder kommen?«
Stachelmann hätte sich belustigt angeschaut, wie der Sagenhafte eierte, wäre es nicht um seine Haut gegangen. Genauer gesagt, um seine Habilitationsschrift, noch genauer, um den Berg der Schande. Er verstand, Bohming setzte ihm die Pistole auf die Brust. Natürlich hatte Bohming als Ordinarius genug Macht, um Stachelmanns traurige Existenz fast beliebig zu verlängern. Es war typisch: Er, der sonst der Größte war, berief sich auf höhere Mächte, machte sich klein, weil er zu feige war, Stachelmann zu sagen: »Passen Sie auf, Sie kriegen noch zwei Jahre. Und wenn Sie in zwei Jahren nachweisen können, dass Sie mehr als mittendrin sind in Ihrer Arbeit, kriegen Sie meinetwegen noch mal zwei Jahre. Aber dann ist Essig.«
Stachelmann hatte nicht viel gesagt. Er hatte es vorausgesehen. Und was sollte er einwenden? Der Sagenhafte war kein Held, aber er hatte Recht. Ich bin ein kläglicher Versager, dachte Stachelmann. Wie habe ich damals nur die Promotion geschafft, mit summa cum laude? Ihm schien es, als wäre der Heidelberger Stachelmann ein anderer als der Hamburger. Der Heidelberger strahlte, der Hamburger verkörperte Lähmung und Depression.
Stachelmann versicherte, längst an der Vorbereitung seiner Arbeit zu sitzen, bald werde er nach Berlin fahren ins Bundesarchiv, dann nach Buchenwald, zur Gedenkstätte für das ehemalige KZ. Nach Abschluss der Recherche werde er zu schreiben beginnen.
Bohming klopfte ihm auf die Schulter. »Ich zweifle nicht an Ihnen, Stachelmann. Ich verteidige Sie, glauben Sie mir das. Sie werden das schon schaffen, bestimmt.«
Zurück in seinem Zimmer, setzte sich Stachelmann hinter seinen Schreibtisch. Er starrte auf den Berg der Schande. Er stellte sich vor, er wäre ein Bergsteiger, der die Eigernordwand hochklettern will, aber schon am Fuß des Matterhorns unter einer Lawine begraben wird. Er hatte es gewusst, irgendwann würde es ihn erwischen. Er sah sich auf dem Weg zum Arbeitsamt. Nur, wer würde einen gescheiterten Historiker einstellen? Was würde er bei Bewerbungen sagen? Wissen Sie, dieser verknöcherte Hochschulbetrieb ist mir auf die Nerven gegangen. Es kann sich keiner vorstellen, wie nervig es ist, lustlosen Studenten etwas beizubringen. Und dann bis zur Pension nur in Akten wühlen, Fachzeitschriftenartikel schreiben, die keiner liest außer denen, die einem einen reinwürgen wollen. Ich muss etwas Neues ausprobieren. Kein Personalchef würde ihm solchen Quatsch abkaufen. So was sagt jeder, der an der Uni gescheitert ist. Und wer an der Uni scheitert, der wird auch woanders scheitern. Keine Durchstehkraft, keine Nerven, mangelnde Leistungsbereitschaft. Er spürte Schweiß auf der Kopfhaut. War das die Stunde, in der sein Untergang sich ankündigte?
Sein Blick fiel auf den Stapel mit ungelesenen Fachzeitschriften. Und die, die darin
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