Mann Ohne Makel
zittern zu sehen. Sie wusste gewiss, was sie von ihm erbat. Welch gewaltiger Druck musste auf ihr lasten, um zu offenbaren, was sie ihm gestanden hatte. Er aß einen Löffel Eis und fragte: »Was kann einem in Archiven Angst machen?«
»Ich habe auch vor Bibliotheken Angst. Archive und Bibliotheken sind für mich Monster. Ich begreife ihre Systematik nicht.« Sie schluckte, sprach hastig. »Ich habe Angst vor den Mitarbeitern dort. Ich habe Angst, dumme Fragen zu stellen. Ich stelle mir vor, ich müsste die Ordnung von Archivbeständen aufgrund meiner Geschichtskenntnisse verstehen. Ich verstehe aber nur Bahnhof. Mit der Bibliothek ist es besser, seit ich übers Internet suchen und bestellen kann. Das ist anonym, und das Internet kennt keine dummen Fragen.«
»Aber du hast doch studiert? Du musst doch Bibliotheken benutzt haben?«
»Erst kurz vorm Examen«, sagte sie. »Da musste ich, und es ging einigermaßen. Da gab es in der Bibliothek einen, der war furchtbar freundlich zu mir, hat mich sogar zum Kaffee eingeladen. Da habe ich mich dann getraut.«
Stachelmann ahnte den Grund der Freundlichkeit. Er fand es lächerlich, als er Eifersucht in sich wahrnahm. Er würde nun oft mit Anne zusammen sein. Sie würden den Berg der Schande gemeinsam durchsuchen. Vor Stunden noch hätte er davon geträumt. Aber nun überfiel ihn die Furcht, gemeinsam mit Anne an dem Ast zu sägen, auf dem er saß. Der Ast war dünn geworden. Er hatte eine Idee, sie überfiel ihn. Er musste sie fragen: »Ich fahre demnächst wieder auf Recherche, nach Berlin und Buchenwald. Komm doch mit. Man muss seine Ängste ja nicht lebenslang mit sich herumtragen. Wir haben ähnliche Themen, warum sollten wir nicht zusammen altes Papier suchen gehen?«
Sie schaute ihn erstaunt an: »Das würdest du tun?«
Er nickte. Ihr Erstaunen zeigte, wie weit entfernt sie von ihm war.
»Ja«, sagte sie. »Ich komme mit.«
Als er sich von ihr verabschiedete, nahm sie ihn in den Arm und küsste ihn auf die Wange. Sie hielt ihn ein paar Sekunden.
Es regnete. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich auf dem Bürgersteig. Er achtete nicht auf die wenigen Passanten. Er ging schnell zum Dammtor-Bahnhof, er hatte nicht mehr viel Zeit, wollte er den letzten Zug nach Lübeck nicht verpassen. Im Hauptbahnhof wartete die Bahn schon. Er stieg in den letzten Wagen. Auf dem Weg in die erste Klasse suchte er Bänke und Ablagen nach einer Zeitung ab. Schließlich fand er eine Morgenpost, fleckig, zerknittert. Der Holler-Mord war auf Seite 3 gerutscht. »Polizei tappt im Dunkeln – wie lange noch?« stand da. Eine Polizistin war überfahren worden. »War es Absicht?« Die Polizistin gehörte zu den Ermittlern im Fall Holler. Gab es Zusammenhänge? So, wie die Zeitung spekulierte, wussten ihre Redakteure nichts. Und die Polizei war offenbar nicht schlauer. Stachelmann dachte an Ossi. Dann ergriff ihn das eigene Elend.
Er war wie betäubt, als er durch die Nacht nach Hause fuhr. An den Scheiben hingen Regentropfen.
***
Der alte Mann schob die Blechlokomotive über den Tisch. Die Räder blockierten. Irgendetwas hatte die Verbindung unterbrochen zwischen den Rädern und dem Schwungmotor im Innern der Lok. Der alte Mann stand auf, ging zu einer Kommode und entnahm einer Schublade ein Kästchen mit Feinmechanikerwerkzeug. Mit Hilfe eines Schraubendrehers trennte er die Blechkarosserie vom Chassis. Er betrachtete den Schwungmotor und die Achsen. Zahnräder sollten zuerst die Kraft der Bewegung auf den Schwungmotor übertragen, wenn die Räder der Lok gedreht wurden. Und dann sollten sie die in der drehenden Bleischeibe des Schwungmotors gespeicherte Energie an die Räder zurückgeben, damit die Lok selbstständig fuhr. Die Kraft wurde über die Hinterachse übertragen. Er ruckelte an den Hinterrädern. Das an der Achse befestigte Zahnrad sollte ein weiteres Zahnrad bewegen, das wiederum das Zahnrad an der Achse der Schwungscheibe antrieb. Das mittlere Zahnrad klemmte, es war verkantet, die Achsenlager waren verbogen. Wahrscheinlich hatte der Junge, der ihm die Lok brachte, sie zu heftig in Bewegung gesetzt oder gebremst. Vielleicht war es auch nur Verschleiß, und die Aufhängung des mittleren Zahnrads war die Schwachstelle in der Lok. Jedes Spielzeug hatte eine Schwachstelle oder eine Sollbruchstelle, wie der alte Mann manchmal wütend sagte, wenn die Kinder Spielzeug brachten, das nicht einmal die ersten paar Stunden gehalten hatte. Aber die Wut legte sich bald, und der
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