Mann Ohne Makel
hoch. »Um Mord?«
»Um den Holler-Mord. Du hast bestimmt davon gehört.«
»Klar.« Sie zögerte, dann fragte sie: »Was hast du damit zu tun?«
»Nichts. Bei den Ermittlungen scheint irgendwas aufgetaucht zu sein, was mit der Nazizeit zusammenhängt.«
»Und wie kommen die Bullen auf dich?«
»Ich sag doch, ich habe einen Freund, der ist Bulle.« Er klang ungeduldig, es tat ihm Leid.
Anne überlegte, die Spitze des rechten kleinen Fingers im Mundwinkel, dann fragte sie: »Darf ich mit?«
»Wohin?«
»Na, heute Abend, mit zu deinem Freund.«
»Klar«, sagte Stachelmann. »Bist ja richtig blutrünstig.«
»Man nennt mich den Vampir des Von-Melle-Parks«, sagte Anne. Sie fletschte die Zähne.
»Na ja, Nachwuchsvampir«, sagte Stachelmann. »Aber euresgleichen wird ja ein bisschen älter als wir Sterblichen. Versuch’s mal mit einem Zahnwuchsmittel.«
»Hab ich schon. Nur dauert das so lange.« Sie schaute ihn betrübt an. »Oder soll das ein Herrenabend werden?«
Stachelmann lachte. »Nein, ich freu mich, komm mit. Kurz vor acht geht’s los.«
Als sie gegangen war, wurde ihm seine Verwirrung bewusst. Die Unnahbare konnte richtig albern und ein wenig aufdringlich sein.
Er schaute auf die Uhr, das Seminar begann. Er schnappte seine Tasche, unterwegs zum Seminarraum fiel ihm eine Frage ein, die er gleich stellen wollte. Er merkte, wie ihn der Abend beschäftigte. Im Seminar herrschte Unruhe. Einige unterhielten sich weiter, nachdem Stachelmann den Raum betreten hatte.
Andere schienen zu dösen. Wieder andere lasen Zeitung oder in einem Buch. Er ließ seine Tasche auf seinen Tisch fallen. Das Klatschen brachte ihm einige Blicke ein. »Guten Morgen!«, sagte er, obwohl Nachmittag war. »Darf ich Ihre Gespräche und Lektüre unterbrechen?«, fragte er freundlich. Die Studenten schauten ihn neugierig an. So forsch hatten sie ihn noch nie erlebt. Manche kicherten. Sie setzten sich auf ihre Plätze und blickten ihn erwartungsvoll an. Alicia Weitbrecht fehlte, ein gutes Zeichen. Simone Wagner saß entspannt hinter ihrem Tisch und schaute ihn freundlich an. Ihr Zorn war offenbar verraucht.
»Wir greifen heute ein wenig vor in der Zeit, aber die Frage, die ich Ihnen stellen will, ist für unser gesamtes Seminar wichtig. Die Frage lautet: Was waren die Totenkopfverbände der SS? Was waren ihre Aufgaben?«
Links vorne ein Finger, hoch in die Luft gestreckt. Stachelmann freute sich, dass sich gleich jemand meldete. Er kannte den Namen des Studenten nicht. Der sagte: »Und was ist mit meinem Referat, das ich heute vorstellen soll?«
»Dazu kommen wir noch, wenn nicht heute, dann nächste Woche«, erwiderte Stachelmann.
»Und mein Referat geht dann über den Jordan, weil nämlich in zwei Wochen Semesterferien sind, falls das jemand vergessen hat.« Es klang quengelig. Auch das war ein Student, von dem er bisher keinen Ton gehört hatte.
»Ich lese und benote jedes Referat. Es war doch von Anfang an klar, dass nicht jeder drankommen kann.« Er staunte, verstand Studenten nicht, die monatelang den Mund nicht aufkriegten, um dann zu fordern, ihr Referat im Seminar vorstellen zu dürfen. Sie würden höchstens drei Viertel der Referate diskutieren können, das Sommersemester war kurz und das Seminar überfüllt. Am Ende stand eine Klausur, die würde Stachelmann korrigieren müssen, nachdem er von seiner Recherchereise zurück war. Er dachte an Anne.
»Lassen Sie mich auf meine Frage zurückkommen«, sagte er. Schleppend kam eine Diskussion zustande. Sie ergab, seine Studenten wussten nicht viel mehr als nichts. Sie wussten nicht einmal, wer die KZs bewachte.
Als er nach Ende des Seminars die Tür seines Dienstzimmers öffnete, hörte er im Rücken eine Stimme. »Herr Stachelmann! Herr Stachelmann!«, rief es. Es war Renate Breuer. Sie kam auf hohen Absätzen angetrippelt und winkte mit einem Zettel. Sie atmete schwer, als sie vor ihm stand. »Ein Anruf aus der Klinik Eppendorf. Frau Weitbrecht. Hier ist eine Telefonnummer!«
Stachelmann bat Renate Breuer in sein Dienstzimmer. Sie redete auf ihn ein. Langsam begriff er. Irgendjemand von der Klinik Eppendorf hatte angerufen, Alicia Weitbrecht sei eingeliefert worden. Er möge zurückrufen. Auf dem Zettel stand ein Name, Dr. Möller.
Stachelmann setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und schwieg. War es ein Trick? Die Sekretärin schaute ihn an. Was dachte sie? Glaubte sie, er habe etwas mit Alicia? Er bat sie hinaus und erntete einen bösen Blick. Dann nahm er
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