Mann Ohne Makel
Vielleicht fand er einen Film oder eine Theatervorstellung für einen der kommenden Abende. So verlockend war die Vorstellung nicht, jede Nacht in einem kleinen Hotelzimmer mit Horatio Hornblower zu verbringen.
Der Zug erreichte den Potsdamer Platz. Kurz entschlossen stieg Stachelmann aus, hier war einst Berlins größte Baustelle. Er wanderte zwischen den Konstruktionen aus Stahl und Glas mit den Symbolen von Sony und Mercedes-Benz. Er fühlte sich immer noch beobachtet, drehte sich um, entdeckte niemanden. Du bist also der Versager mit dem Verfolgungswahn. Ab in die Klapsmühle. Vielleicht war er dort besser aufgehoben als im Philosophenturm der Hamburger Universität.
Er kehrte zurück zum Bahnhof. Er nahm die S-Bahn zur Friedrichstraße, setzte sich wieder an die Kopfseite des Wagens und beobachtete die Insassen. Eine alte Frau bewegte fortlaufend ihre Lippen, als spräche sie zu sich selbst oder kaute etwas. Zwei junge Männer unterhielten sich in einer fremden Sprache, es klang wie Russisch. Sie waren so vertieft in ihr Gespräch, dass sie die Umgebung nicht wahrnahmen. Zwei junge Frauen teilten sich einen Walkman, zogen hin und wieder die Stöpsel aus den Ohren und sprachen miteinander. Vielleicht tauschten sie sich aus über neue Songs ihrer Lieblingsbands. Sie zeigten ein Bild von Harmonie, wie sie schwatzten und lachten, dann aufmerksam hörten, manchmal mitsummten. Am anderen Ende des Wagens saß in der Mitte der Bank ein älterer Herr, er las ein Taschenbuch. Er trug ein graues Jackett und hatte eine tief braune Gesichtsfarbe, die die weißen Haare betonte.
In der Friedrichstraße stieg Stachelmann aus. Er fühlte sich gut, hatte seine Angst vergessen. Er mischte sich unter die Touristen am Reichstag, seine Augen suchten die Kugeleinschläge aus dem Krieg. Er entdeckte keine. Vor der Wende konnte man die zerschossene Fassade bestaunen, wenn man mit der S-Bahn über die Grenze fuhr. Da war der Krieg noch nah.
Stachelmann verbrachte den Abend in Mitte. Er schlenderte Unter den Linden entlang, früher die schönste Promenade der Stadt, heute erdrückt vom Beton und Stahl der Renommierbauten. Hier war es kalt im Hochsommer. Er bog ein in die Friedrichstraße und betrat den Bahnhof. In einem der Schnellrestaurants aß er einen Fischteller. Dann stieg er hoch zu den Gleisen. Der Bahnsteig war gefüllt mit Touristen und Menschen, die spät von der Arbeit kamen oder einkaufen waren. Er schlenderte den Bahnsteig entlang. Als er von einem Ende zurückkam, erkannte er auf der Bank nahe der Treppe den Mann mit dem grauen Jackett. Der Mann las in einem Taschenbuch.
Stachelmann betrachtete ihn einige Sekunden, dann ging er weiter. Es war peinlich, fremde Menschen anzustarren. Der Mann hatte es offenbar nicht bemerkt, jedenfalls ließ er sich nicht abbringen von seiner Lektüre. Stachelmann lief zum anderen Ende des Bahnsteigs und wieder zurück. Ihn trieb die Unruhe, der Grund für seinen Archivbesuch vernebelte. Du fährst nicht nach Berlin, um zu recherchieren, du bist geflohen nach Berlin. Geflohen vor dem Aktenberg zu Hause zu den Akten im Archiv, die du in Wahrheit nicht brauchst. Gewiss fehlt noch dies und jenes, aber woher weißt du, was fehlt, wenn du nicht weißt, was du hast? Musstest du nach Berlin fahren, um zu begreifen, dass du hier nichts zu suchen hast, bevor du nicht in Hamburg alles gefunden hast, was im Berg der Schande liegt? Wenn du so weitermachst, dann türmst du neue Aktenschichten auf und vergrößerst das Elend, das schon groß genug ist, dich zu vertreiben. Je höher der Berg in Hamburg, desto stärker die Angst, ihn nicht zu bewältigen. Das war sein Irrtum, dass er vor dem Versagen floh, um noch tiefer im Morast zu versinken. Bis es keinen Ausweg mehr gab.
Da fiel ihm Anne ein. In seinen Gedanken lächelte sie. Sie hatte ein Lächeln, das einen zu ihr hinzog. Vielleicht wollte sie ihn doch nicht nur ausnutzen. Warum gab er sich keine Chance? Wenn er es nicht versuchte, würde er Anne nicht gewinnen. Das wäre das Schlimmste. So, wie er sich verhielt, hatte er dieses Ergebnis längst erreicht. Wie kann man Angst vor dem Scheitern haben, wenn man gescheitert ist? Das ist verrückt. Stachelmann lachte leise vor sich hin. Ich habe ein paar Macken, bestimmt, aber wahnsinnig bin ich nicht. Ich bin dabei, mich wahnsinnig zu machen. Das muss man auch erst mal schaffen. Er lachte, ein Mann, der an ihm vorbeilief, warf ihm einen Blick zu. Dann schüttelte er den Kopf.
Auf der Bank nahe der
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