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Mann Ohne Makel

Titel: Mann Ohne Makel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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einmal.
    »Ach, wissen Sie, ich kann Menschen schlecht beschreiben, wahrscheinlich sehe ich zu viele.« Sie zögerte.
    »Weiße Haare, die Spitzen bedeckten die Ohren. Und er trug ein graues Jackett. Ein bisschen altmodisch, wie das bei alten Leuten so ist. Ach ja, er kommt wohl gerade aus dem Urlaub, sah gut erholt aus.« Die Schwester ging.
    Diesen Mann hatte er gestern gesehen. In der S-Bahn, er hatte im selben Wagen gesessen wie Stachelmann. Und am Bahnsteig in der Friedrichstraße war er ihm auch aufgefallen. Natürlich, es gab andere Männer, die graue Jacketts trugen, aber sein Vater zählte nicht dazu. Und er hatte keine Haare, deren Spitzen die Ohren bedeckten. Und sonnengebräunt war er schon gar nicht.
    Das Handy klingelte, Ossi war dran. Er klang immer noch unterkühlt. »Mich hat ein Kollege aus Berlin angerufen. Die können mit der Sache nichts anfangen, fürchte ich. Du hast bestimmt keinen gesehen, der dich gestoßen haben könnte?«
    Stachelmann überlegte, dann entschied er, nichts von dem Mann mit dem Jackett zu erzählen. Ossi war schon beleidigt, er wollte ihm keinen Grund geben, über ihn zu lachen. Wenn Ossi den Mordversuch als Hirngespinst abtat, dann würde ihn die Geschichte von dem allgegenwärtigen Greis nur bestätigen.
    »Nein«, sagte Stachelmann.
    »Ich habe niemanden gesehen.«
    »Na, dann kann man nichts machen. Pass auf dich auf.
    Tschüss.« Ossi legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.
    Den Rest des Tags verbrachte Stachelmann im Bett. Er schloss die Augen und dachte nach. Die Krankenschwester servierte ein Abendbrot. Draußen schien die Sonne, die Strahlen blendeten. Mittags hatte es Eintopf gegeben, jetzt lagen Brotscheiben, Wurst und Käse auf dem Tablett. Eine Kanne Tee dampfte, roch gesund und schmeckte grauenhaft. Stachelmann aß nicht, er schloss wieder die Augen und überlegte. Zuerst kam ihm seine Idee wahnsinnig vor. Vielleicht hatten die Leute doch Recht, wenn sie ihn für verrückt hielten. Warum sollte ihn einer vor den Zug stoßen? Es gab dafür keinen Grund. Andersherum gesehen, wenn ihn einer vor den Zug stieß, hatte er einen Grund, es sei denn, er wäre durchgeknallt und fände Spaß daran, andere Leute umzubringen. Das mochte es geben, aber es war nicht vernünftig, davon auszugehen. Also wieder Ockhams Rasiermesser. Es stieß ihn nur einer vor die Bahn, der dies wollte und dafür einen Grund hatte. Es sei denn, es handelte sich um eine Verwechslung. Das war möglich, Wilhelm von Ockham aber schnitt diese Möglichkeit weg. Nein, ihn wollte einer umbringen, und der hatte einen Grund dazu. Es war richtig, dies zu unterstellen. Umso besser, wenn es doch eine Verwechslung war. Stachelmann musste den Grund finden. Erst fiel ihm keiner ein. Dann erinnerte er sich an die beiden Männer im Archiv. Sie hatten sich seltsam verhalten und die Akten genommen, die er auch ausgesucht hätte. Hamburger Finanzbehörde, lachhaft, dachte Stachelmann. Alles ist verjährt. Es sei denn, die Finanzbehörde treibe das schlechte Gewissen. Aber seit wann haben Behörden ein Gewissen? Vielleicht geht es um Vermögen der DDR? Aber dann suchten sie im falschen Bestand. Wenn die beiden etwas mit dem Anschlag zu tun hatten, welche Rolle spielte dann der Alte mit dem grauen Jackett?
    Wenn es einen Grund gab, ihn umzubringen, was sprach dafür, dass es den Grund nicht mehr geben sollte? Es war sinnvoll, zu glauben, dass da draußen einer herumlief, der ihn töten wollte, ihn, den Historiker ohne Zukunft. Der Mann, der sich als sein Vater vorgestellt hatte, war jedenfalls ein Lügner und wahrscheinlich auch ein Mörder. Er war gekommen, Stachelmann zu töten. Der Bahnhof Friedrichstraße war ideal dafür. Das Krankenhaus aber auch. Hier kamen und gingen viele Leute. Der Mörder musste nur einen Moment abpassen, wo in irgendeinem anderen Zimmer etwas los war.
    Was war der Schluss aus all diesen Annahmen, die so folgerichtig erschienen und doch falsch sein konnten? Wenn er überleben wollte, durfte er nicht im Krankenhaus bleiben. Er musste abhauen, heute Nacht schon. Er hatte einmal Glück gehabt. Vielleicht war alles Unsinn. Vielleicht spinne ich wirklich, dachte Stachelmann. Aber wer sich beim Überleben auf Wahrscheinlichkeiten verließ, war so gut wie tot. Er spürte keine Angst, es schien ihm unwirklich. Er betrachtete sich wie einen Schauspieler in einem Film. Er musste lachen. Ich, der Versager, dem das Schicksal einen Platz unter einer Brücke zugewiesen hat, der sich vor einem

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