Mann Ohne Makel
die anderen zogen. Endlich saß Stachelmann auf dem Bahnsteig. Die Leute starrten ihn an. Die Menge wurde geteilt, eine Frau im weißen Kittel, dahinter zwei Männer mit Tragbahre. Die Frau ging in die Knie. »Wie geht es Ihnen?«, fragte sie, während sie seine Hand nahm und den Puls fühlte. Sie betrachtete seine Stirn, dann winkte sie die beiden Männer heran. Die stellten die Tragbahre neben ihn. »Ich schaffe es allein«, sagte Stachelmann und stand auf. Ihm wurde schwarz vor Augen. Als er aufwachte, lag er in einem Krankenwagen. An seinem linken Arm hing ein Schlauch. Neben ihm saß die Ärztin. Er schaute sie an. Sie lächelte. »Da sind Sie ja wieder«, sagte sie. Sie erinnerte ihn an Anne.
Der Krankenwagen fuhr mit Sirene und Blaulicht. Dann hielt er an. Die Tür wurde geöffnet. Die beiden Männer zogen die Trage auf ein Fahrgestell. Sie rollten ihn in den Eingang eines Krankenhauses. Die Notärztin lief an der Seite mit. Sie brachten ihn in ein Behandlungszimmer und hoben ihn auf den Tisch. Ein Mann erschien. Er reichte Stachelmann seine Hand und murmelte etwas. Stachelmann verstand ihn nicht. Der Mann war Arzt, er untersuchte Stachelmann, sprach leise, fast mit sich selbst.
»Prellung«, verstand Stachelmann. Die Ärztin stand an der Wand und schaute zu. Ab und zu warf sie ihm einen Blick zu. Dann sagte sie: »Glück gehabt, ist nichts Schlimmes passiert. Alles Gute!« Sie öffnete die Tür und ging.
Dann erschien eine Krankenschwester, eine schwere Frau um die Fünfzig. Sie fragte: »Geht es?«, und nahm Stachelmann am Arm, ohne eine Antwort abzuwarten. Stachelmann sagte: »Ja.« Am Arm der Krankenschwester ging er zu einem Aufzug. Sie fuhren zwei Stockwerke hoch, dort brachte die Krankenschwester Stachelmann in ein Zimmer. Ein Bett war belegt, der Mann schlief. Stachelmann legte sich in das andere.
»Wir müssen jetzt Ihre Daten aufnehmen«, sagte die Krankenschwester.
»Ich bin privat versichert, mit Anspruch auf ein Einzelzimmer.« Stachelmann hatte seine Krankenversicherung aufgestockt, als er erfuhr, dass er Rheuma hatte.
»So langsam werden Sie wieder klar im Kopf«, sagte die Krankenschwester. »Dass Sie schon an so was denken können.«
Wenn ich schon ins Krankenhaus muss, dann de luxe, dachte Stachelmann.
»Wir haben noch ein Einzelzimmer«, sagte die Krankenschwester. Sie löste die Bremsen an seinem Bett und schob ihn ans Ende des Ganges in ein Zimmer. Es stand nur ein Schrank darin. »Tisch, Stühle und so weiter besorge ich gleich«, sagte die Krankenschwester und ging.
Sie kehrte zurück mit einer Kollegin. Die beiden trugen Stühle. Sie verließen das Zimmer und kamen mit einem Tisch zurück. »Wollen Sie ein Fernsehgerät?«, fragte die andere Schwester. Sie hatte eine piepsige Stimme. Stachelmann schüttelte den Kopf. Die beiden gingen, sie schlossen die Tür, es war Ruhe.
Was war geschehen? Er schloss die Augen und überlegte. Er hatte einen Stoß in den Rücken bekommen. Das war kein Rempeln gewesen, nicht unabsichtlich, wie es hin und wieder passiert. Es war ein schneller, harter Stoß mit einer Handfläche gewesen. Der Stoß sollte ihn auf die Gleise fallen lassen, damit ihn die S-Bahn überfuhr. Stachelmann stellte sich vor, wie er ausgesehen hätte, wenn die Bahn nicht rechtzeitig gehalten hätte. »Ein Wunder!«
Er hatte die Stimme eines Menschen aus der Menge im Ohr. Ja, es war ein Wunder, dass er überlebt hatte.
Wer hatte einen Grund, ihn auf die Gleise zu stoßen? Ein Verrückter? Gab es Leute, die andere Leute umbrachten, weil es ihnen Spaß machte? Kaum. Was sagt Ockham dazu, der Mann mit dem Rasiermesser der Logik? Wenn dich einer stößt, dann will er dich irgendwohin befördern. Wer hat die Absicht, mich umzubringen? Eine Verwechslung? Es konnte nur eine Verwechslung sein, Stachelmann kannte niemanden, der ihn so hasste, dass er ihn töten wollte. Gut, das weiß man nicht, man steckt nicht drin in anderen Menschen. Aber selbst bei aller denkbaren Übertreibung, Stachelmann entdeckte nicht den Anschein eines Grunds.
Als er nach seinem Handy suchte, fiel ihm auf, dass er einen Krankenhauspyjama trug. Er stand auf und ging zum Schrank. Darin hing seine Kleidung, sie war schmutzig. Er hatte nicht gemerkt, dass jemand seine Kleidung in den Schrank gehängt hatte. In seiner Jacketttasche fand er das Handy, das Display war zersplittert und schlecht abzulesen. Er schaltete das Handy ein und suchte Ossis Nummer. Dann ließ er es klingeln.
»Mordkommission.«
»Kann
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