Mann Ohne Makel
ich Kommissar Winter sprechen?«
Es dauerte einige Sekunden. »Winter.«
»Ich bin’s, Ossi.«
»Guten Tag«, sagte Ossi. Es klang, als hätte Ossi seine Stimme in einer Tiefkühltruhe gelagert.
»Jemand hat versucht mich umzubringen.«
»Was?« Er schwieg. Dann fragte er: »Wo und wie?«
»Bahnhof Friedrichstraße, in Berlin. Jemand hat mich aufs Gleis gestoßen.«
»Du nimmst mich auf den Arm.«
»Nein, du Idiot. Ich liege in der Charité mit Prellungen und einer Beule im Gesicht.«
»Du bist sicher, es war kein Versehen? Einer hat nicht aufgepasst, Kinder, die Fangen spielen oder so.«
»Es hat mich jemand mit der Hand gestoßen, so fest, dass ich vor eine S-Bahn stürzte.«
»Sag mir mal deine Zimmernummer.«
Stachelmann stand auf und ging zur Tür. Er öffnete sie und las die Zimmernummer außen ab. Er sagte sie Ossi.
»Und dir sind meine Kollegen noch nicht auf die Pelle gerückt? Die wurden doch bestimmt zum Bahnhof gerufen. Und jetzt wissen sie wahrscheinlich nicht, wo das arme Opfer liegt. Heiliges Chaos! Haben die da wieder Staatsbesuch? Ich klär das und schick einen vorbei, der wird die Sache aufnehmen. Du machst vielleicht Sachen. Wenn der Kollege weg ist, ruf mich noch mal an.« Ossi legte auf.
Es dauerte nicht lang, bis es an der Tür klopfte. Ein Polizist in Uniform betrat das Zimmer, er war blond und jung, ein weiches Gesicht. Viel zu jung für einen Polizisten.
»Guten Tag, meine Kollegen aus Hamburg schicken mich. Ich soll etwas aufnehmen. Auf Sie wurde ein Anschlag verübt?« Es klang ungläubig.
Stachelmann zeigte auf einen Stuhl, der Polizist setzte sich und legte einen Block auf seine Knie. Er schaute Stachelmann erwartungsvoll an. Wäre der mir auf der Straße begegnet, ich hätte ihn für einen Schüler gehalten. Vielleicht merkt man nur so, dass man älter wird. Der Rücken schmerzte, er wusste nicht, ob es vom Sturz kam oder von der Arthritis. Er richtete sich auf im Bett und schob sich ein Kissen unter den Rücken.
»Ja, jemand hat mich auf die Gleise gestoßen im Bahnhof Friedrichstraße.«
Der Polizist schrieb etwas auf. »Haben Sie den gesehen, der sie stieß?«
»Nein, wie auch? Er hat mich in den Rücken gestoßen.«
»Sie hätten sich beim Fallen umdrehen können.«
Stachelmann starrte ihn an. »Mit Pirouette oder ohne? Oder vielleicht noch einen dreifachen Rittberger?«
Der Polizist schaute Stachelmann an, als käme er vom Mars. »Wie meinen Sie das?«, fragte er.
»Ich meine, dass ich andere Sorgen hatte, als mich nach dem Kerl umzuschauen, der mich geschubst hat. Zum Beispiel wollte ich nicht auf den Rücken fallen. Das ist im Menschen so eingebaut. Es gelingt ihm leider nicht so gut wie einer Katze.«
Der Polizist kaute am Bleistift. »Aber Sie sind sicher, dass Sie gestoßen wurden. Warum?«
»Würden Sie es nicht merken, wenn Sie jemand in den Rücken stößt? Mit der flachen Hand, damit sie auch wirklich fallen? Vielleicht ist der Begriff stoßen falsch, vielleicht sollte ich kräftig schieben sagen.«
Der Polizist kaute am Bleistift. »Gut, ich werde ein Protokoll aufsetzen und wiederkommen, damit Sie es unterschreiben können. Ich sehe es richtig, Sie haben den Täter nicht gesehen.«
»Nein.«
»Gibt es jemanden, der ihn gesehen hat?«
»Weiß ich nicht.«
Der Polizist stand auf, gab Stachelmann die Hand und ging. Stachelmann war sich sicher, der Mann glaubte ihm nicht. Er hielt ihn wahrscheinlich für einen Hysteriker. Oder für einen, der gestolpert ist auf die Gleise und sich nicht traute, es einzugestehen. Stachelmann zog das Kissen unter seinem Rücken weg und legte es unter den Kopf. Die Tür öffnete sich, der Arzt erschien, er hatte eine Spritze in der Hand. Stachelmann hatte Angst vor Spritzen. Der Arzt bat Stachelmann, das Gesäß freizumachen. Stachelmann spürte keinen Schmerz. Nach einigen Minuten war er eingeschlafen.
Am Morgen erinnerte er sich dunkel an Träume. Die dicke Krankenschwester erschien und brachte ein Frühstück. Sie war gut gelaunt. »Wie geht es uns denn heute?«
»Wie es uns geht, weiß ich nicht. Ich habe Kopfschmerzen.«
»Soll ich Ihnen eine Schmerztablette bringen?«
Stachelmann lehnte ab. Er hörte die Krankenschwester auf dem Gang ein Lied pfeifen.
Das Frühstück bestand aus grauen und schwarzen Brotscheiben, abgepackter Margarine, Marmeladendöschen und in Plastik verschweißtem Käse. In einem Becher dampfte Tee. Stachelmann schmierte sich ein Brot mit Erdbeermarmelade und trank einen Schluck. Er
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