Manner Lieben
redete Marriott nicht um den heißen Brei herum, sondern gab seine Schwäche offen zu.
„Und da leben Sie ausgerechnet mitten in New York?", fragte Chris lächelnd. Sein Lächeln wurde nicht erwidert. „Die Stadt ist da draußen, und sie inspiriert mich. Menschenmengen auf der Straße ertrage ich eher, als die in Räumen. Ich verlasse dennoch selten meine Wohnung."
Chris notierte sich alles gedanklich. Es war noch zu früh, um sich sichtbar Notizen zu machen.
Marriott schien wieder in seine eigene Welt abzudriften. „Ich hätte trotzdem hingehen sollen. Ich weiß das, aber ...", er verstummte und diesmal sah Chris, wie Marriott sich eine Haarsträhne hinter das Ohr strich.
Er verspürte ein Kribbeln im Magen bei diesem Anblick. Der Künstler strahlte eine Zerknirschung aus, die Chris ans Herz ging. Er blendete rigoros aus, dass er selbst an dessen Verzweiflung schuld war.
„Aber was?", versuchte er die unverhoffte Redebereitschaft seines Gegenübers in Gang zu halten.
Marriott wich seinem Blick aus und starrte auf die Tür. Kein gutes Zeichen, wie Chris sofort verstand. Er würde vorsichtig vorgehen müssen, wenn er das Loft nicht bald wieder von draußen betrachten wollte.
„Meine Freundin hatte kurzfristig abgesagt. Ohne die schaffe ich es einfach nicht, mich mitten unter Leuten in einem geschlossenen Raum aufzuhalten. Sie beruhigt mich." Chris notierte sich gedanklich, dass Marriott in einer Beziehung lebte. Irgendwie überraschte ihn das. Außerdem verspürte er einen Stich, weil Marriott hetero war. Er schob das Gefühl ebenso schnell von sich, wie seine Schuldgefühle wegen der geradezu bösartigen Lüge. „Das ist bedauerlich", erwiderte er vage.
„Bedauerlich? Sie meinen, dass ich nicht in der Lage bin, mich alleine anderen Menschen auszusetzen?"
Chris machte eine beschwichtigende Geste. „Nein. Ich meine, dass Ihre Freundin absagen musste."
„Wie war die Vernissage? Waren viele Leute dort?", fragte Marriott.
„Es war ein voller Erfolg, würde ich sagen. Und ja, es waren eine ganze Menge Leute zugegen. Viel Presse." „Ich kenne das Magazin, für das Sie arbeiten." Marriott wandte sich ab und ging ein paar Schritte in Richtung seiner eigentlichen Wohnung, Chris folgte ihm zögerlich. Sein Blick fiel auf eines der unvollendeten Bilder. Für ihn sah das Dargestellte wie ein Haufen grauer Innereien aus. Chris räusperte sich, damit Marriott bewusst wurde, dass er ihm ohne ausdrückliche Aufforderung gefolgt war. Abrupt drehte der Künstler sich um, als sein vernichtendes Urteil fiel. „Ich mag Ihr Magazin nicht! Sie wühlen im Privatleben der Künstler, ohne einen Funken von Rücksicht! Es ist ein verabscheuungswürdiges Schundblatt."
Chris fiel die Kinnlade runter. Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass es vielleicht besser war, diesen Mann nicht auf die Menschheit loszulassen.
„Art'n live hat es sich zur Aufgabe gemacht, auch über die Kunstwerke hinaus auf das Leben des jeweiligen Künstlers zu blicken. Wir tun das sowohl bei den alten Meistern, als auch bei zeitgenössischen. Dadurch wird Kunst persönlicher und zugänglicher."
„Art'n live schlachtet Klatsch und Tratsch aus! Bei den alten Meistern gibt es genügend Skandale, die breitgetreten werden können, denen schadet es zumindest nicht mehr persönlich. Aber einen hochgelobten Newcomer in Misskredit zu bringen, indem seine längst verjährte Jugendsünde das Cover des Blattes ziert, halte ich schlicht für eine Hetzkampagne." Chris erinnerte sich an den Fall. „Es ging darum, dass er in seiner Jugend Malutensilien gestohlen hatte, weil ihm das nötige Geld fehlte, um sie zu kaufen. Wir wollten damit unterstreichen, dass er alles unternommen hat, um seinen Traum zu verwirklichen. Er hatte dem Bericht über den Diebstahl selbst zugestimmt!" „Dann war er ein Idiot", erwiderte Marriott. Chris raufte sich das kurz geschnittene Haar. Inzwischen waren er und Marriott in der Küche angelangt. Der unfreiwillige Gastgeber griff nach einer Flasche Orangensaft, riss förmlich zwei Gläser aus dem Schrank, füllte sie je zur Hälfte und reichte eines davon Chris. Nachdem der Künstler getrunken hatte, sagte er lauernd: „Sie haben mich doch nur aufgesucht, um zu sehen, wie ich auf den Diebstahl meines Bildes reagiere. Wie ein Geier wollten Sie sich auf dieses Unglück stürzen und darüber berichten!"
„Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte Ihnen nur Fragen über Ihre Arbeit stellen. Über die Bedeutung Ihrer Bilder. Über Ihre
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