Mannerfreie Zone
wähle die Worte sehr sorgfältig. „Um ehrlich zu sein macht ihr der Job nicht sonderlich viel Spaß. Sie würde gerne irgendwie noch mehr machen.“
„Sie ist ein kluges Mädchen“, sagt mein Vater und zieht an seiner Zigarette.
„Kommt sie übers Wochenende?“ Meine Mutter ahnt schon etwas.
„Also, sie kommt dieses Wochenende. Aber vielleicht wird sie eine Weile bleiben, weil sie nach New York umziehen will.“
Meine Eltern werfen sich einen Blick zu. Zwischen ihnen spielt sich eine Art telepathische Unterhaltung ab. Als sich meine Mutter wieder mir zuwendet, spricht sie für beide. Es ist absolut erstaunlich, wie das bei ihnen funktioniert.
„Honey, wir freuen uns sehr, dass deine Freundin hierher ziehen will. Wir wissen doch, wie sehr du das College vermisst und dass du hier ein wenig einsam bist.“ Sprechen die von mir? Haben die auch nur die geringste Ahnung, was sie da erzählen? „Aber weißt du, wir sind nun mal kein Hotel. Das mit Monica hat uns schon gereicht.“
Als meine Schwester ihr erstes Diplom bekam – in Philosophie – hat sie beschlossen, dass sie zusammen mit sieben ihrer engsten Freunde in einer Art Kommune im Keller unseres Hauses leben wollte. Das funktionierte genau zwei Wochen. Dann eines Tages, nachdem meine Mom ihnen gerade French Toast mit einem No-Name-Sirup gemacht hatte, verkündete eine ihre Freundinnen, dass sie nicht mehr länger leben könne „wie bei armen Leuten“. Völlig außer sich rannte sie aus dem Haus und ließ sich vom Chauffeur ihrer Familie abholen, der den ganzen Weg von Connecticut nach New Jersey angefahren kam. All ihre Ideale wurden einfach zunichte gemacht, weil es keinen Ahornsirup aus Vermont gab.
„Mom.“ Ich merke, dass ich ganz nervös werde. Ich werde jetzt auf keinen Fall einen Rückzieher machen, vor allem, nachdem ich noch nicht einmal annährend die Bombe habe platzen lassen. „Okay, Mom, du weißt genau, dass Roseanne überhaupt nichts mit diesen pseudointellektuellen Pseudohippies von Monica zu tun hat. Sie will nur so lange hier wohnen, bis wir ein Apartment gefunden haben.“ Verdammt. Ich hätte nicht „wir“ sagen dürfen.
Dieses Mal machen sie sich gar nicht erst die Mühe, telepathisch miteinander zu kommunizieren. Meine Mutter formt mit ihren Lippen lautlos das Wort „wir“ und schüttelt den Kopf. Sie ist viel leichter zu durchschauen als mein Dad. Ihr Mund verzieht sich nach unten, und zwischen ihren Augenbrauen bildet sich eine tiefe Falte. Mein Vater ist stoisch wie immer, aber sein Gesichtsausdruck wird ein klein wenig härter.
„Warum willst du nur in dieser schmutzigen Stadt wohnen? Zusammen mit all den vielen Leuten, diesen schmutzigen Leuten?“ Ich habe keine Ahnung, wer diese schmutzigen Leute sein sollen.
„Mom“, sage ich mit einer Stimme, als ob sie gerade mal zwei Jahre alt wäre. „Ich kann deine Bedenken ja verstehen, aber wirklich, der einzige Mensch, mit dem ich zusammen leben werde, ist Roseanne. Keine schmutzigen Leute.“ Sie müssen ja nichts von den „schmutzigen“ Begegnungen erfahren, die ich vielleicht haben werde.
„Aber wieso willst du dort leben? Ich kann dich nicht verstehen, genauso wenig wie deine Schwester. Euer Vater und ich tun doch alles für euch. Alles. Wir würden euch niemals Miete bezahlen lassen. Wir schlagen euch nicht. Ich koche für euch. Vielleicht hätte ich euch damals doch lieber stillen sollen.“ Es ist klar, dass meine Mutter sich in einen hysterischen Zustand hineinredet, also wende ich mich meinem Vater zu, der seine dritte Zigarette raucht.
„Alles, ihr habt hier doch alles. Für euch ist das doch wie ein langer Urlaub. Wie in …“ Er versucht verzweifelt, einen Ort zu finden. „Wie an der Riviera.“ Autsch. So langsam verstehe ich, warum mein Vater das Reden meistens meiner Mutter überlässt. Sie ist vielleicht etwas emotional, kann sich aber deutlich besser ausdrücken.
„Dad!“ Ich will schon sagen, dass er nie näher an die Riviera rangekommen ist als bis Epcot, aber ich habe mir ja geschworen, ruhig zu bleiben. Ich schaue die beiden an. Außergewöhnliche Situationen verlangen außergewöhnliche Maßnahmen. Also ergreife ich ihre Hände. In Geiste höre ich das begeisterte Klatschen eines imaginären Studiopublikums. Ich hole tief Luft und versuche blinzelnd, eine Träne herauszuquetschen.
„Ihr wisst doch, dass ich euch beide liebe. Ihr habt mir immer alles gegeben. Ihr seid die besten Eltern der Welt.“ Jetzt schaue ich beiden
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