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Manöver im Herbst

Manöver im Herbst

Titel: Manöver im Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Tragödie, standen sie nackt vor einem Nichts. Ohne Ausbildung als die, schießen zu können, ohne Wissen als das, was sie vor sieben Jahren bei der Abiturprüfung vorgetragen und in den Materialschlachten verloren hatten. Vor allem aber ohne die Hoffnung, die verlorenen Jahre nachholen zu können, weil sie jetzt altersmäßig an jener Grenze standen, an der man den Grundstock des ferneren Lebens vorweisen soll.
    Giselher hatte wochenlang gesucht. Endlich hatte er eine Anstellung gefunden. Bei einer Mehlmühle stand er neben den automatisch abgefüllten Säcken und drückte einen Stempel auf die Säcke und malte mit einem Pinsel ›Verteilungszahlen‹, nach denen das Mehl in die einzelnen Zentralen geliefert wurde. Dafür bekam er einen kleinen Lohn, aber jede Woche zwei Pfund Mehl. Gegen acht Pfund tauschte er einen einplattigen Elektrokocher ein. Als er ihn in die Turnhalle, Box 12, brachte, zusammen mit drei Pfund Mehl, einem halben Block Margarine und einem kleinen Töpfchen Rübenmarmelade und stolz sagte: »So, Mutter, heute abend backst du uns einen ›Eierkuchen mit Konfitüre‹«, weinte Amelia vor Glück.
    Uta-Sieglinde hatte schneller eine Stelle gefunden. Sie hatte sich bei einem Fabrikanten als Hausmädchen beworben. Jeden Abend brachte sie in einem Eßgeschirr Bratenstücke mit, Gemüsereste, Kartoffeln, ein paarmal sogar aus der Pfanne gekraztes Fett. »Die haben genug«, sagte sie, als Amelia rügte, so etwas tue man nicht. »Von der Produktion gehen 80 Prozent auf den Schwarzmarkt. Mutter … da kannst du alles kaufen. Von der besten Seife bis zum westfälischen Räucherschinken. Du mußt nur etwas haben, was du bieten kannst. Und die Michels haben es.«
    So war Amelia mit dem kleinen Fritz allein in ihrer Box Nr. 12 in der Turnhalle. Oft schämte sie sich vor den Kindern über das, was sie hören und sehen mußten. Liebe, Streit, Geburt und Laster lagen wie eine Wolkenhülle über ihnen. Geräusch, Stimmen und Töne bildeten eine Kuppel innerhalb der Halle. Hier gab es keine Scham mehr, kein Verstecken, keine Maske der Erziehung. Wer hier in den Boxen lebte, war nackt. Und er sah auch die anderen nicht anders. Sie lebten alle im gleichen Dreck. Wer lieben wollte, tat es … ob die anderen zuhörten, wen kümmerte es? Wer schlagen wollte, hieb drauflos … wen das Schreien störte, der sollte gehen …
    Uta-Sieglinde sparte ihren Lohn. Auch Giselher gab kaum etwas aus. Jede freie Minute gingen sie durch die Umgebung und suchten nach einer menschenwürdigen Unterkunft. Sie saßen stundenlang bei den Behörden, sie sahen die langen Suchlisten bei den Rote-Kreuz-Stellen durch. Zweimal hätten sie bei einem Bauern in der Nähe der Stadt ein großes Zimmer mieten können. Nur einen kleinen Haken hatte es: Der eine Bauer wollte einen neuen Pflug, und der zweite sagte bescheiden:
    »Tja, ein gutes Klavier könnte ich gebrauchen. Haben Sie ein Klavier?«
    Im April 1946 wurde Amelia zum Roten Kreuz bestellt. Ein Grund war nicht angegeben.
    Zitternd hielt sie Giselher das Schreiben entgegen, als er nach Hause kam. »Es ist sicherlich wegen Vater«, stammelte sie. »Er … er …« Sie konnte es nicht aussprechen. »Ich habe keine Kraft mehr, es anzuhören, ich könnte es nicht ertragen. Gehst du hin, Giselher?«
    Nach zwei Stunden wußten sie, daß Oberstleutnant Heinrich Emanuel Schütze gegenwärtig in Detmold wohnte. Bei einer Familie Schwarz. Er suchte seine Frau und Kinder.
    »In Detmold!« Amelia saß auf dem Bett in Box 12 und hielt die Adresse wie einen ungeheuren Schatz umklammert. »Aber wer ist Schwarz? Giselher, kannst du dich noch an eine Familie Schwarz erinnern?«
    »Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor. Ganz dunkel ist da in der Erinnerung etwas … Ja … ja …« Giselher hob die Hand. »Mit Christian war es. Er war damals ins Eis eingebrochen, und ein Schwarz war es, der ihn mit herausholte.«
    »Richtig! Ja! Ewald Schwarz … Jetzt weiß ich es wieder.« Amelia sah wieder auf die Adresse. »Ob Vater bei ihm wohnt? Warum ist er gerade nach Detmold gegangen?«
    »Ob Detmold, Lüneburg oder Passau … wo soll er denn hin? Ein Ort ist wie der andere für ihn. Überall ist er ein Fremder. In Detmold vielleicht am wenigsten.«
    Am Abend legte man dann alles Geld zusammen, das man gespart hatte. Giselher, als vorläufiger ›Chef‹ der Familie, ordnete an: Mutter fährt allein nach Detmold. Uta nimmt sich zwei Tage frei und bleibt bei dem kleinen Fritz. Für Giselher ging die Arbeit weiter

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