Manöver im Herbst
in der Mühle. Nur daß er zusätzlich noch einkaufen würde, was ihm Uta aufschrieb.
»Soll ich ihm ein Telegramm schicken?« fragte Amelia.
»Warum? Du bist einfach da.«
»Und wenn er einen Herzschlag bekommt? Du weißt nicht, wie er sich verändert hat. Was er alles durchmachen mußte.«
»Ein Telegramm kostet Geld. Fahr, Mutter … es wird sich schon ergeben, daß Vater keinen Herzschlag bekommt …«
Sie brachten Amelia zur Bahn, setzten sie in ein Abteil 3. Klasse; Giselher hatte sogar ein Pfund Äpfel organisiert, damit die Reise nicht zu lang würde.
Dann saß sie im ratternden Zug und hatte plötzlich Angst. Solange sie mit ihren Kindern allein war, hatte sie alles ertragen, was das Leben an Widerwärtigkeiten über sie ausschüttete. Sie hatte das Leben in der Box 12 auf sich genommen, weil sie wußte, daß Giselher eines Tages doch ein anständiges Zimmer besorgen würde. Aber jetzt? Heinrich Emanuel mitnehmen in die Turnhalle? Wenn bekannt wurde, daß ein ehemaliger Stabsoffizier unter ihnen wohnte, würden die anderen die Box kurz und klein schlagen. Der Haß auf alles, was einmal eine silberbetreßte Uniform getragen hatte, war so stark, daß es keine Logik und keine Vernunft mehr gab. Und wie würde Heinrich Emanuel reagieren?
In Detmold stand Amelia hilflos vor dem Bahnhof. Sie hatte sich am Schalter erkundigt … fast zwei Stunden zu Fuß mußte sie gehen. Richtung Hermannsdenkmal.
Damals sind wir mit einer Kutsche hinausgefahren, erinnerte sie sich. Und Heinrich Emanuel hat den Kindern erklärt: Da, der Mann mit dem Schwert, ist ein deutscher Held. Er hat die Römer aus den germanischen Landen geschlagen. Und dann hatte er über die blonden Köpfe seiner Söhne geblickt, als wolle er sagen: Werdet auch Helden, Jungen. – Nun lag der eine in Rußland, irgendwo, unter einem weggewalzten Grab. Und der andere war aus der Bahn geworfen, zählte Mehlsäcke, träumte von Medizin und knirschte des Nachts mit den Zähnen, weil das Rückgrat noch immer schmerzte.
Amelia nahm ihre Wachstuchtasche und ging. Nach einer halben Stunde überholte sie ein Bauernwagen. Sie kletterte hinten hinauf und schaukelte über die Landstraße zur Wohnkolonie.
Wie mag er jetzt aussehen, dachte sie immer wieder. Sie hatte sich auf der Toilette im Detmolder Bahnhof betrachtet. Es war der einzige große Spiegel seit Monaten.
Schmal war sie geworden. Aber die großen Augen waren geblieben, das feine, zierliche Gesicht, die Güte, die immer ihr Leben bestimmt hatte. Sie war jetzt einundfünfzig Jahre alt. Wenn der Krieg nicht die Bahn der Ordnung zerstört hätte, würden Christian und Giselher schon verheiratet sein und die ersten Enkelkinder würden unter ihren Händen aufwachsen.
Großmutter. Tatsächlich, man konnte es sein. Und trotzdem fuhr man jetzt dem Mann entgegen mit den seligen Gefühlen eines jungen Mädchens. Als ob es keine Zeit gegeben hätte, nicht fast dreiunddreißig Jahre gemeinsamen Lebens.
Dreiunddreißig Jahre mit Heinrich Emanuel … Amelia lächelte still. Wenn es auch schwer gewesen war … es war schön gewesen. Nicht eine Stunde wollte sie davon missen.
»Da sind wir gleich«, sagte der Bauer und zeigte mit einem Haselnußknüppel hinüber zu den kleinen Siedlungshäuschen. »Ich muß weiter nach Hiddesen …«
Amelia stieg vom Wagen. Sie bedankte sich und ging dann langsam den etwas abfallenden Weg hinab zur Siedlung. Haus Nr. 36, dachte sie.
Vielleicht steht er am Fenster und sieht mich. Oder er arbeitet im Garten. Herumsitzen und nichts tun, das kann er ja nicht.
Plötzlich hatte sie keine Zeit mehr. Sie begann zu laufen, schneller, immer schneller. Und wenn es auch vor ihren Augen zu flimmern begann, sie lief weiter, als seien es gerade diese paar Minuten, die sie nicht verlieren wollte.
*
Das Leben eines Lageristen spielt sich zwischen Listen, Warenbeständen, Ein- und Ausgängen und peinlicher Ordnung ab.
Es war genau die Welt, in der Heinrich Emanuel Schütze immer gelebt hatte. Alles hatte einen Sinn, jeder Handgriff diente der Sorgfalt. Nach acht Tagen wußte man bereits in der Spinnerei, daß man nicht mehr wie früher einfach aus dem Lager etwas nehmen konnte … mit Heinrich Emanuel zog die Genauigkeit ein in Gestalt von Laufzetteln, Empfangsbescheinigungen, Dringlichkeitsnachweisen und Leihfristen.
Die Arbeiter murrten. Die Leitung der Spinnerei dagegen war zufrieden und gab Schütze eine Lohnaufbesserung von 10 Mark pro Woche.
Am wichtigsten aber war, daß im Hause
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