Manöver im Herbst
Emanuel merkte es nicht gleich, nur das Lachen Jeanettes klang in ihm bald wie helle Glocken. Ihr schmales, hübsches Gesicht glänzte, ihr roter Mund schien ihm wie ein geschlitztes Rosenblatt zu sein.
»Trinken Sie, Herr Oberleutnant!« rief Bollet fröhlich. »Diesen Wein habe ich vergraben gehabt. Nur Sie sind es wert, ihn zu trinken.«
»Worauf stoßen wir an?« rief Schütze. Er war aufgesprungen und schwenkte sein Glas durch die Stube. Er fühlte sich völlig losgelöst von allen Problemen, von allen Erinnerungen, von allen Vorsätzen. Es ist mein erstes Betrunkensein, dachte er. Und es ist herrlich. Die Welt weitet sich … und das Herz. Verdammt, daß man bis heute vergessen konnte, was ein Herz ist …
»Auf das Leben!« rief Bollet.
»Auf unser Weiterleben!« ergänzte Schütze.
Sie tranken. Sie tranken den Krug leer. Sie aßen die pommes frites, den gebratenen Speck … sie sangen sogar. Aus dem Dunst des Alkohols wurde ein neuer Heinrich Emanuel geboren. Als Bollet zu einer Gitarre griff und einen Walzer spielte, tanzte er sogar. Erst mit Madame Sarah, dann mit Jeanette. Er drückte sie an sich, und sie ließ es geschehen. Er spürte den Druck ihrer Brust, das rhythmische Gleiten ihrer Schenkel, und zum erstenmal empfand er etwas, was er bei Amelia nie empfunden hatte. Leidenschaft, unermeßliches Begehren, taumelndes Entzücken und nicht mehr zügelbare Ungeduld.
»Du bist schön«, stammelte Schütze. Er drückte Jeanette, daß ihr fast der Atem ausging. Aber sie lachte ihn an, ihr Mund war wie ein glimmerndes Feuer … plötzlich küßte sie ihn, wild, hemmungslos, biß ihn in die Unterlippe und leckte mit ihrer Zunge die Blutstropfen ab, die aus der Bißstelle hervorquollen.
Heinrich Emanuel stöhnte. Er taumelte, er griff um sich und erfaßte ihre Brust. Das Zimmer drehte sich im Kreise, vor seinen Augen tanzten funkelnde Mosaike … und in diesem Kreisel sah er immer wieder Jeanettes Gesicht, die wirbelnden, langen, schwarzen Haare. Er hörte ein helles Ritschen und hielt die Fetzen von Jeanettes Bluse in den Händen.
Charles Bollet und Madame Sarah hatten längst das Zimmer verlassen, als Jeanette den Kopf Schützes an ihre Brust zog und seine Ohrläppchen küßte, mit der Hand über seine Brusthaare streichelte und seinen trunkenen Mund über ihren weißen Körper lenkte.
»Mon cher«, sagte sie zärtlich und knöpfte sein Hemd auf. »Mon petit barbar …«
*
Er erwachte mit dem Gefühl, statt des Gehirns einen Klumpen Blei im Schädel zu haben. Als er sich aufstützte, sah er, daß er auf einem Feldbett lag, und neben ihm lag Jeanette.
Mit einem Satz sprang Heinrich Emanuel vom Bett, riß die Uniformhose an sich und schlüpfte hinein. Dann starrte er wieder auf die schlafende Jeanette, auf diesen weißen, noch in der Ruhe tierisch wilden Körper, schlug die Hände vor die Augen, raufte sich die Haare und suchte nach einem Wasserbecken. Als es an der Tür klopfte, rannte er zum Bett, deckte Jeanette mit einer auf den Boden gefallenen Decke zu und sagte heiser: »Oui …«
Charles Bollet trat ein. Sein Gesicht war ernst. Heinrich Emanuel winkte ab. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und schloß die Augen.
»Sprechen Sie nicht, Bollet … Ich weiß, was Sie sagen wollen. Sie haben mich in der Hand.«
Bollet blickte hinüber auf seine noch schlafende Tochter. Was er in diesem Augenblick dachte, als Vater, war eine Qual, die er abdämpfte mit dem Selbstbetrug: Es geschah für Frankreich. Sie ist eine Märtyrerin. Als er sich Oberleutnant Schütze wieder zuwandte, war sein Gesicht starr, fast von Haß verzerrt.
»Unsere Rechnung ist beglichen«, sagte er hart. »Du weißt, was mit dir geschieht, wenn dieses hier –«, er stockte und mußte schlucken, so bitter stieg es ihm auf, »– wenn es herauskommt. Du bist verheiratet …«
Schütze ließ den Kopf auf seine Brust fallen.
»Was wollen Sie …?« fragte er leise.
»Heute abend wird eine Abteilung von mir, zwei Kilometer von Soustelle entfernt, eine Trainkolonne überfallen. Du hast dafür zu sorgen, daß ab 10 Uhr nachts keine Patrouillen in dieser Gegend sind. Außerdem werden wir die erbeuteten Sachen zwei Tage hier verbergen.«
Heinrich Emanuel Schütze sprang auf. Sein Gesicht war verzerrt. »Nein!« schrie er. »Erschieß mich, du Hund! Das tue ich nicht! Ich werde nie, nie –«
Er wollte noch etwas sagen, er wollte schreien, aber Bollet war auf ihn zugetreten und schlug ihm ins Gesicht. Dreimal, viermal …, der Kopf
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