Manöver im Herbst
Leidenschaft.
Nach acht Wochen bekam Heinrich Emanuel seinen Weihnachtsurlaub. Er hatte noch nie einen Urlaubsschein mit so wenig Interesse betrachtet.
In der Nacht vor der Abreise schlief er überhaupt nicht. Auch Jeanette wollte über Weihnachten verreisen. Zu einer Tante nach Belfort. Schütze hatte ihr die Durchreisegenehmigungen von der Armee beschafft. Es war schwierig gewesen, aber seine Versicherung, daß keinerlei Spionagetätigkeit zu befürchten sei, verhalf Jeanette schließlich zu einer Bescheinigung.
So nahmen sie in dieser Nacht Abschied, als sollte es die letzte Nacht sein. Am Morgen fuhr Oberleutnant Schütze ab. Die Kommandantur übernahm ein Hauptmann der Landwehr. Er war fünfzig Jahre alt, litt an Asthma und wollte seine Ruhe haben. Er war keine Gefahr für Jeanette, die nach Neujahr wiederkommen und weiterputzen wollte.
Zufrieden reiste Schütze ab nach Breslau. Notgedrungen beschäftigten sich seine Gedanken jetzt mit Amelia.
Er hatte so etwas wie einen sittlichen Kater. Er dachte darüber nach, wie er sich ihr gegenüber benehmen sollte, wenn sie selig, in ihrem seidenen langen Nachthemd mit den vielen Spitzenröschen, neben ihm liegen würde und mit der Hand nach ihm tastete.
Es war gar nicht so einfach.
Die Urlaubswoche ging schnell vorüber.
Zu schnell für Amelia, schnell genug für Heinrich Emanuel.
Irgendwie fühlte er sich aus dem Kreis, der ihn bisher umgeben hatte und der ihn jetzt wieder wie ein rohes Ei umhegte, entwachsen. Er hatte das Leben gesehen, eine andere Seite des Lebens jedenfalls, die allen unbekannt war, die hier in Breslau große Reden führten und noch immer um den Sandkasten hockten und Siege mit den Holzklötzchen herausspielten. Baron v. Perritz war in den wenigen Monaten gealtert. Er hörte und sah mehr, als er sagte. Franz Schütze hatte seine Einberufung als Landsturm ohne Waffe bekommen … Kommerzienrat Sulzmann gelang es mit dem allerhöchsten Einsatz von Speck, Wurst und Schmalz, seinen Schwiegersohn als unabkömmlich zu deklarieren. Das war bei einem Steueroberinspektor zwar nicht der Fall, aber Sulzmann hatte Franz Schütze als stellvertretenden Vorsitzenden eines ›Liebesgabenkomitees‹ in jene Sparte einschleusen können, deren Verminderung eine Schwächung des deutschen Durchhaltewillens bedeuten würde.
Amelia war von ihrem Mann begeistert. Sosehr sich Heinrich Emanuel auch bemühte, die Künste seiner Lehrmeisterin Jeanette nicht auf Amelia auszudehnen, brach doch ab und zu bei ehelichen Handlungen sein neu entdecktes Temperament durch. Amelia wurde in erotische Tiefen gestürzt, die sie mit Bewunderung und später Begeisterung in Besitz nahm. Sie weinte bitterlich, als der Tag der Abreise kam. Auch sie bereitete Heinrich Emanuel einen schlaflosen Abschied, aber es war Limonade gegen Sekt in Jeanettes Armen. Eine zwar süße Limonade – das gab Schütze bei stillen Vergleichen zu –, nicht so strapaziös, aber für seine erweckte Gier im ganzen gesehen unbefriedigend.
Silvester stieß man auf Gut Perritzau auf den Frieden an, den das jetzt begonnene Jahr 1916 bringen mußte.
»Der Sieg ist unser!« rief ein ebenfalls eingeladener Oberst a.D. »Was meinen Sie, junger Freund?«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Herr Oberst. Die Frühjahrsoffensive wird die Entscheidung bringen.«
»Die gerechte Sache siegt immer. Natürlich. Es muß in Europa endlich geklärt werden, wer die beherrschende Macht ist. Sie kann und wird nur Deutschland heißen. Hurra! Hurra! Hurra!«
Nach diesem Trinkspruch des Obersten a.D. – er glühte vor vaterländischer Begeisterung – wurde hinter dicht verhängten Fenstern getanzt.
»Man darf es nicht so zeigen«, meinte der Baron. »Zur gleichen Stunde, in der wir hier eine Art der Lustbarkeit ausführen, fallen an allen Fronten Hunderte unserer Brüder und Freunde.«
»Ein Hurra den Helden!« brüllte der Oberst a.D. Er hatte schon sehr viel Wein genossen und bedachte, leicht schwankend und in den Knien federnd, alles, was nach Krieg klang, mit einem donnernden Hurra, v. Perritz war das peinlich, aber er konnte es nicht abstellen. Der Oberst a.D. saß einem Komitee vor, das den Kriegseinsatz der Landwirtschaft kontrollierte. Vor allem die Ablieferungspflicht. Die Schwarzschlachtungen. Das verbotene heimliche Zentrifugieren. Er war eine Schlüsselposition. So ließ ihn der Baron unangefochten Hurra brüllen. Ein schwarzgeschlachtetes Schwein ist das schon wert.
Erlöst von den heimatlichen Anstrengungen traf
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