Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
noch nicht nach deinem Namen gefragt«, sagte Ryan.
»Ich heiße Anna.«
»Ist das vielleicht die Kurzform für Ariana?« Arthur Field wischte sich die Hände an einem Lappen ab, dann warf er ihn auf die Rückbank des Autos und richtete sich mit einem leisen Lächeln auf.
Anna starrte ihn stumm an. »Woher wissen Sie das?«, fragte sie schließlich. »Das steht nur auf meiner Geburt s urkunde.«
»Einfach gut geraten.«
Der Junge berührte ihren Arm, und sie zuckte zusa m men. »Lass dich von meinem Onkel nicht verunsichern. Er gibt gern vor, Gedanken lesen zu können. Aber da, wo wir herkommen, versteckt sich hinter jeder Anna eine Ariana. Es ist einer der traditionellen Namen bei uns.«
Obwohl sie nickte, war sie nicht vollständig überzeugt. Etwas an diesem Mann beunruhigte sie. Er hatte sich wieder dem Wagen zugewandt, und sie beobachteten ihn schweigend.
»Dieses Mal wird es klappen«, sagte er. »Diesmal springt er an.« Er drehte den Zündschlüssel um. Der M o tor hustete zweimal, dann erwachte er knatternd zum L e ben. »Und endlich lichtet sich auch der Nebel«, fügte er noch hinzu und ließ den Motor weiterlaufen. Er trat an den Straßenrand und schaute hinaus in das weiße Nichts.
Anna sah sich um. Der Nebel war so dicht wie eh und je, er verhüllte sogar die niedrige Mauer auf der anderen Straßenseite. Und dann plötzlich begann er, sich zurüc k zuziehen. Ein Baum tauchte auf, dann ein Fels. Ein paar Minuten später glänzte tief unter ihnen der Rand eines Gewässers, und gegen den Himmel zeichneten sich die Berge ab.
Jemand hämmerte gegen die Tür des Waschraums. Ich hob den Kopf von den Knien und kam wieder zu mir. Draußen peitschte der Regen. »Leo?« Es war Pater Du n stans Stimme.
Ich öffnete die Tür und blinzelte ihn an.
»Du siehst erschöpft aus. Bist du eingeschlafen?«
Ich wusste es nicht. Ich hatte geträumt, weit weg zu sein, aber jetzt fiel mir alles wieder ein. Stirling! Ich griff nach dem Türrahmen, um mich abzustützen.
»Es wäre kein Wunder, schließlich hast du seit Tagen nich t m ehr richtig geschlafen«, sagte der Priester gerade. Neben ihm stand meine Großmutter und sah mich durch einen Tränenschleier hindurch ängstlich an. »Leo, hör zu – da ist ein Mann hier …« , fuhr Pater Dunstan fort.
»Ist das der Junge?«, fragte nun eine Stimme, die ich nicht erkannte. Ich hob den Blick und sah am Rand des Hofs einen Gefreiten stehen. Er kam nun auf mich zu und musste dabei gegen den Regen anblinzeln. »Bist du Le o nard North?«
Ich nickte. »Bitte entschuldigen Sie die Umstände«, sagte er zu Großmutter und Pater Dunstan, bevor er sich wieder mir zuwandte. »Aber du bist aufgefordert, dich zum Militärdienst zu melden.«
Noch immer verwirrt, starrte ich ihn einfach nur an. Er hielt mir eine Uniform entgegen, bat mich, sie anzuzi e hen und versuchte, mir ein Gewehr zu übergeben.
»Was?«, schrie Großmutter, die bereits in Panik geriet. »Wovon sprechen Sie?«
»Haben Sie die Zeitung nicht gelesen?«, fragte der G e freite.
Wir sahen ihn schweigend an.
»Aufgrund der schweren Verluste an der Grenze sind wir gezwungen, sämtliche Truppen überall dort abzuzi e hen, wo wir sie entbehren können«, erklärte er. »Gleic h zeitig müssen wir aus allen wichtigen Städten Kadetten holen, damit sie die frei gewordenen Posten besetzen.«
»Ihr könnt keine Kinder schicken, damit sie euren Krieg für euch austragen«, wandte Pater Dunstan ein. Das war das erste Mal, dass ich ihn so unverblümt seine Meinung über irgendetwas sagen hörte.
»Nein, nein«, beschwichtigte ihn der Mann. »Sie ve r stehen mich falsch. Keiner der Kadetten wird kämpfen – sie führen nur einfache Aufgaben aus, indem sie zum Beispiel Tore bewachen, Nachrichten übermitteln oder in der Stadt patrouillieren. Ic h v ersichere Ihnen, dass sie nicht in die Nähe der Kampfhandlungen an der Front kommen. Und die einzigen Kadetten, die wir einziehen, sind die Schüler im neunten Schuljahr, die ohnehin schon fast so weit sind, in die Armee einzutreten. Wir müssen die Soldaten, die diese Aufgaben im Moment überne h men, freistellen, damit sie kämpfen können. Ich weiß, dass das bedauerlich ist, aber …«
»Er hat erst heute Morgen seinen Bruder beerdigt«, sagte Pater Dunstan mit mahnendem Unterton. »Erwa r ten Sie wirklich, dass er jetzt einfach weggeht?«
Der Soldat versuchte, sich bei mir zu entschuldigen, aber ich drehte mich weg. »Wenn er mit dem Sergeant spricht, bin
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