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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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gedrückt. Wir marschierten noch nicht mal in Reih und Glied, so n dern in einem mutlosen Gänsemarsch. Die anderen Ju n gen wirkten beunruhigt, der Sergeant und der Soldat w a ren gereizt. Wir gingen um die Burg herum und übe r querten anschließend die Nördliche Brücke. Unter uns wogte das milchig-braune Wasser des Flusses, und für einen Moment überkam mich ein Gefühl, als ob ich fa l len würde. Dann hörte ich auf, darüber nachzudenken.
    Sobald wir aus der Stadt waren, blieb der Sergeant stehen und klärte uns auf. »Kadetten, ich werde euch nichts vormachen: Wir gehen zur alcyrischen Grenze.«
    Die anderen murrten und warfen sich Blicke zu, aber ich empfand nicht das Geringste. Sie nahmen ihren ni e dergeschlagenen Marsch wieder auf, und ich bildete schweigend das Schlusslicht. Ich hatte gebetet, woanders zu sein. Und hier war ich nun, auf dem Weg zur Grenze.
     
    Wir mussten seit Stunden gelaufen sein, denn als ich hochsah, wurde der Himmel bereits dunkel. Die Wolken hingen noch immer tief, und das Licht der Kupferlampen und die gedrückte Stimmung machten mir Kopfschme r zen. Nach einer Weile wichen die Wolken in Richtung Stadt zurück, und wir erhaschten noch ein paar letzte, abendliche Sonnenstrahlen, die auf die goldenen Felder fielen. Bis zu diesem Tag hatte ich noch nie ein Kornfeld gesehen. An diesen Teil der Reise erinnere ich mich. Fast der ganze Rest ist für immer verloren.
    Ich dachte an nichts. Ich starrte nach vorne, sah nur, was dort war und machte mir keine weiteren Gedanken darüber. Es war der einzige Weg zu überleben. Ich kon n te mir vormachen, jemand anders zu sein, weil ich nichts hatte, das mich daran erinnerte, wer ich wirklich war – ich lief durch eine Landschaft, in der ich nie zuvor gew e sen war, ohne irgendetwas, das mir gehörte, oder jema n dem, den ich kannte oder schon mal getroffen hatte. Nur das zusätzliche Gewicht des zweiten Armbands an me i nem Handgelenk erinnerte mich daran, dass ich einmal einen Bruder namens Stirling gehabt hatte, oder dass ich einmal Leo North gewesen war, oder dass ich zu Hause eine Großmutter hatte, die sich fragen würde, wo ich war.
    Irgendwann fing ich unterm Laufen an zu weinen. Ich hatte für eine Sekunde vergessen gehabt, dass Stirling tot war, und als es mir nun plötzlich wieder einfiel, machte es mir furchtbar Angst, und es kam mir so wirklich vor. Wirklicher s o gar als in dem Moment, als ich ihn in dem Sarg hatte li e gen sehen.
    Die übrigen Jungen warfen mir verlegene Seitenblicke zu, dann wandten sie ihre Gesichter hastig ab und t u schelten miteinander. Ich weinte weiter, und sie gaben vor, es nicht zu hören. Dann löste sich einer von ihnen aus der Gruppe und ließ sich zu mir zurückfallen – ein Junge mit einem silbernen Zahn. Durch die Tränen fu n kelte er, als wäre er ein Stern.
    »Hast du Angst, weil wir an die Grenze gehen?«, fra g te er.
    Ich schüttelte erschöpft den Kopf und sah weg. Er schwieg, während ich versuchte, aufzuhören zu we i nen, und er überlegte, was er sagen könnte. Dann fragte er mich, ob ich müde oder krank sei. Ich antwortete nicht.
    »Bist du stumm, oder was?« Ich schüttelte wieder den Kopf, und er ließ es auf sich beruhen. »Ich schätze, wir werden bald in Ositha ankommen. Es wird langsam spät.«
    Ich hatte gedacht, dass wir direkt zur Grenze gehen würden, aber jetzt wurde mir klar, dass sie zu weit en t fernt lag, um sie an einem einzigen Tag zu erreichen. Das Donnern der Explosionen und Geschützfeuer war noch immer schwach. Es wurde stetig dunkler. Der mit du n kelblauen und rosafarbenen Farbfetzen gemusterte Hi m mel spiegelte sich in den Pfützen entlang der Straße. Die Spiegelungen sahen echter aus als der Himmel selbst, und die Pfützen reihten sich so dicht aneinander, dass es schien, als würde man durch Fenster im Boden auf ein einziges, riesiges Gemälde blicken. Ich stellte mir vor, in eine andere Welt zu sehen – in den Himmel, wo Stirling war. Vielleicht konnte ich durch eins der Fenster einen Blick auf ihn erhaschen.
    Aber es waren nur Pfützen. Ich marschierte mitten durch sie hindurch, und das Licht in ihrem Wasser e r losch. Als ich den Blick hob, ging der Junge mit dem Silberzahn wieder vor mir, und er sah nicht mehr zurück.
    Zuerst hatte ich nur flüchten wollen. Vor Großmutters We in en, vor Stirlings leerem Bett und dem frömmelnden Pater Dunstan. Jetzt war mir die Flucht gelungen, und darüber war ich erleichtert, aber wovor ich nicht hatte fliehen

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