Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
können, war der Schmerz in meinem Herzen. Trotzdem war ich froh zu laufen. Ich fing an, mir einz u reden, dass mich nur das Laufen davor bewahren konnte, zu fallen oder zu begreifen, dass Stirling gestorben war. Ich wünschte, wir würden die ganze Nacht durchma r schieren, aber der graue Schemen der Stadt war schon in Sicht. Dann wurde ich müde und hörte auf zu denken. Eine seltsame Ruhe legte sich über mich.
Eine Wagenkolonne kam über die Straßenkuppe g e rollt. Wir stellten uns auf eine Seite, um sie vorbeizula s sen, und zuerst dachte ich, dass die Fuhrwerke mit schl a fenden Menschen gefüllt waren, die kreuz und quer übe r einanderlagen. Aber dann wurde mir klar, dass es Le i chen waren – tote Körper, die noch immer in ihren Un i formen steckten.
»Das Stille Fieber«, hörte ich den Sergeant sagen. »Es ist das Einzige, was sie tötet. Sie sitzen den ganzen Tag über im Morast und warten darauf, es sich einzufangen. Das ist kein Krieg. Hundert erschossene Männer pro Woche, die meisten davon aus Versehen. Wir brauchen die Kadetten nicht. Verdammte Zeitverschwendung, di e se Kinder hierherzubringen.«
Ich hörte zu. Es war etwas, auf das ich meine Geda n ken konzentrieren konnte, damit sie sich nicht im Nichts verloren.
»Wenn Sie mich fragen«, sagte der Gefreite, »zieht Lucien die Kadetten nur deshalb aus den Städten ab, weil er befürchtet, dass sie eine Revolte anzetteln könnten. Sie sind diejenigen, die nicht für ihren Gehorsam gegenüber der Regierung bezahlt werden. Und seit diese Rebelle n gruppen stärker werden …« Er musste weitergesprochen haben, aber ich bekam es nicht mehr mit.
Wir gingen immer weiter. Die Sonne war fast unterg e gangen.
Der Gefreite erzählte dem Sergeant gerade, dass er an Luciens Stelle das Land verlassen hätte. »Als das letzte Mal eine solche Atmosphäre herrschte, hat der König es ignoriert. Und kurz darauf war er tot.«
Meine Gedanken schweiften ab. Ich versuchte, mich dazu zu zwingen zuzuhören, anstatt zu denken.
»Die Menschen besinnen sich wieder auf diese alte Prophezeiung«, erwiderte der Sergeant. »Es herrscht eine Atmosphäre der Gerüchte. Ist es das, was Sie meinen?«
»Der Lord Aldebaran steht in Kontakt zu den Revol u tionären. Das ist kein Gerücht – es ist eine Tatsache.«
Plötzlich war ich zurück bei Stirling und dem Tag, als wir durch den Schnee gestapft waren und über Aldebaran und den Prinzen geredet hatten. In diesem Moment fing ich an zu begreifen, dass die Dinge nie mehr so sein wü r den wie zuvor. Mir schossen die Tränen in die Augen. Ich ließ nicht zu, dass sie fielen, und lief weiter hinter den anderen her. Wir waren nun in der Stadt. Wir kamen über einen leeren Platz, auf dem Reihen von Kanonen standen, dann über ein verwüstetes Grundstück, das man in einen Schießplatz verwandelt hatte und auf dessen e i ner Seite noch immer ein halbes Haus stand. Der Wind pfiff durch das ausgeweidete Gebäude.
Es herrschte eine nervöse Stimmung in dieser selts a men Stadt. Pferde bewegten sich unruhig, stießen dabei dampfende Atemwolken in der klammen Abendluft aus, und die Männer, die herumliefen, redeten und lächelten nicht. Überall wehten schmutzige, feuchte malonische Flaggen und schlugen wie die Flügel hässlicher Vögel gegen die Gebäude. Vor einem kleinen Haus hielten wir an.
»In Ordnung, Jungs«, rief der Sergeant. »Ihr werdet heute Nacht hierbleiben. Wir sind im Gasthof, die Straße runter.« Er stieß die Tür auf und führte uns in den verla s senen Wohnraum. Der Boden war mit Staub bedeckt, der nur an den Stellen ve rw ischt war, wo vor uns Menschen geschlafen hatten. Ich folgte den Konturen mit den A u gen, während der Sergeant weitersprach.
Es musste einige Zeit vergangen sein, denn mit einem Mal war es völlig dunkel, und der Sergeant und der G e freite waren verschwunden. Die anderen breiteten D e cken auf dem Boden aus. Ich stand ganz still am Hinte r fenster, und die anderen Jungen schenkten mir, von gel e gentlichen verstohlenen Blicken abgesehen, keine Beac h tung. Jemand zündete eine Kerze an. Ich betrachtete den Widerschein in der Fensterscheibe. Der Junge, der mich zuvor angesprochen hatte, zeigte eine Pistole herum, die er mitgebracht hatte, und sein silberner Zahn funkelte in dem düsteren Zimmer. Ein paar andere hoben ihre Wa f fen und zielten lachend aufeinander, dann versuchten sie, gegen die Wand zu schießen, und mussten feststellen, dass sie nicht geladen waren. Sie hatten uns
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