Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
Vom Netzwerk:
die Traurigkeit aus mir herausgeströmt war, aber ich konnte es nicht. Ich starrte stumm und mit trockenen Augen vor mich hin, während Pater Dunstan ein Gebet über dem Sarg sprach und dann zurücktrat, sodass Großmutter und ich allein am Grab standen. Er las nun aus der Bibel vor, aber ich hörte nicht zu. Großmutter warf eine Hand voll Erde in die Grube und bedeutete mir dann, dasselbe zu tun. Die Erdklumpen zerbarsten und verstreuten sich auf dem neuen Holz des Sargs. Anschließend wurde das Grab rasch mit Erde aufgeschüttet, während die Prozession zur Kirche zurückkehrte und der Tag anbrach. Aber ich blieb, wo ich war.
    »Komm, Leo«, sagte Großmutter, als es anfing zu re g nen. Er setzte ganz plötzlich ein, ohne Vorwarnung. Der Totengräber war gegangen, das Grab war zugeschüttet und mit Torf b ed eckt. Ich dachte an nichts, starrte ei n fach nur das Grab und das Kreuz mit Stirlings Namen darauf an. »Komm, lass uns nach Hause gehen«, bat sie.
    Aber es gab ohne Stirling kein Zuhause; ohne ihn gab es nichts. Er war der Einzige, der mir auf dieser Welt etwas bedeutete. Ich könnte für immer hier an diesem Grab bleiben. Bis ich verdurstet oder verhungert oder an Erschöpfung gestorben war, und dann könnte ich ebe n falls hier beerdigt werden, in dem Grab gleich neben se i nem, und dann würde ich Stirling niemals verlassen mü s sen. Aber das Fleisch verwest, und manchmal werden Gräber verlegt, und wer konnte schon sagen, was in der Zukunft mit diesem Friedhof geschehen würde? Und selbst wenn ich in der kalten, dunklen Erde neben ihm begraben würde, war er trotzdem nicht hier. Aber es füh l te sich trotzdem so an, als ob er es wäre. Und ich wollte ihn nicht ganz allein hier in der Dunkelheit zurücklassen.
    In meiner Brust stieg ein unerträglicher Schmerz auf. Ich sah mich um, und das Nichts hob sich wie Geiste r hände über die Mauern, und der Regen in der Luft erzi t terte, und die Erde kippte, und es gab nichts, das mich davor bewahren konnte hinunterzustürzen. Ich fiel auf das Grab und begann in der Erde herumzuwühlen, so als wollte ich es ausheben.
    Dann bekam Großmutter mich zu fassen und versuc h te, mich auf die Füße zu ziehen. »Leo! Leo, bitte! Ich brauche dich! Du darfst nicht den Verstand verlieren.«
    Die Geister verschwanden, die Erde fand ihr Gleic h gewicht wieder, und der Regen fiel so hart, dass es we h tat. Ich drehte mich um und folgte ihr.
    Während wir den Friedhof immer weiter hinter uns ließen, spürte ich, wie ein Band straff gedehnt wurde – ein Band, das zwischen meinem Herzen und Stirlings Grab verlief. Je weiter wir uns entfernten, desto straffer wurde es und desto schmerzhafter. Ich konnte es tatsäc h lich spüren – als echten Schmer z i n meiner Brust. Erst jetzt begriff ich, was die Leute meinten, wenn sie sagten, dass ihr Herz gebrochen sei.
     
    Als ich später an diesem Morgen vom Waschraum z u rückkam, sah Großmutter von ihrer Näharbeit auf und rief: »Stirling?« Ich trat in das Sichtfeld ihrer suchenden Augen. »Ah, Leo«, sagte sie. »Wo ist mein Kleiner? Wo ist mein Stirling?« Ich gab keine Antwort, sondern sah sie nur an, doch sie nahm mich gar nicht wahr. »Tot und begraben?«, fragte sie, obwohl ich nichts gesagt hatte. »Was – ist es schon sechs Jahre her?« Sie sprach mit j e mandem in dem Raum zwischen ihr und mir, nur, dass da niemand war.
    Dann fiel ihr Blick auf mich, und sie kam zurück von wo auch immer sie gewesen war. »Es ist kaum drei Stu n den her«, murmelte sie. Tränen rannen ihr über die Wa n gen. »Oh, Leo, ich habe es vergessen – wie konnte ich es vergessen? Ich weiß nicht, was passiert ist.«
    Sie umklammerte etwas in ihren Händen, das über ihre Stuhllehne gebreitet lag. Ich trat neben sie und betracht e te es. »Für Stirlings Erstkommunion«, sagte sie und hielt es hoch.
    Es war ein fast fertiger Mosaik-Quilt, in den sie gerade den letzten Flicken einsetzte. Die äußeren Rechtecke w a ren mit einem Muster aus Vögeln und Blättern bestickt, die inneren mit Sternen. Dafür waren also die Stoff-Flicken gewesen, an denen ich sie die ganze Zeit über hatte arbeiten sehen.
    »Ach, Leo«, jammerte sie. »Wie können wir das übe r leben? Wie sollen wir nur ohne ihn weitermachen? Wie nur?«
    Sie knüllte den Quilt in ihrem Schoß zusammen und begann, mit leerem Blick schluchzend vor und zurück zu schaukeln. Ich ging im Zimmer auf und ab. Dann ging ich im Kreis herum und hielt während jeder Ru n de die Luft an. Das

Weitere Kostenlose Bücher