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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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auch keine Bajonette gegeben – der Sergeant war offensichtlich u m sichtiger, als es den Anschein hatte.
    »Die hier ist geladen«, versicherte der Junge mit dem Silberzahn den anderen und hielt die Pistole seitlich en t lang seiner Handfläche. Sie wirkten angemessen beei n druckt.
    Er schlief mit der Pistole in der Hand. Die Kerze war bis auf den Boden runtergebrannt, und es war zu dunkel, um eine andere zu suchen. Schließlich verklang auch das letzte Geflüster, und als ich mich von dem dunklen Fen s ter abwandte, sah ich, dass sie alle schliefen. Ich hatte das Gewehr nicht vom Rücken genommen und zitterte in meiner feuchten Uniform. Dennoch stand ich einfach da und beobachtete, wie die Sterne herauskamen.
    Die schwere Stille, das kalte Funkeln der Sterne und der trostlose, düstere Raum waren bedrückend. Aber z u mindest war ich allein. Ich stand am Fenster und weinte – nicht hemmungslos, sondern leise, und zum Teil wegen dieser kalten, weißen Sterne –, und fühlte mich dabei ganz ruhig. So als ob ic h d amit fertigwerden könnte. So als ob ich den Weg vor mir bereits sehen könnte.
    Es war dumm, das zu denken. Ich drehte mich um, und die schlafenden Jungen erinnerten mich an den schlafe n den Stirling auf der anderen Seite unseres Zimmers zu Hause. Und dann weinte ich wirklich. Nicht um den, der Stirling geworden wäre oder gewesen war, und auch nicht um den Teil von mir, der verloren war, sondern um den, der er war – mein Bruder Stirling. Weil ich mich so verzweifelt fühlte und mir mehr als alles andere wünsc h te, dass mich jemand tröstete, und dieser Jemand Stirling war. Er war so weit weg.
    Mein Atem ging in abgehackten Schluchzern, die meinen ganzen Körper durchschüttelten, und ich presste mir die Hand vor den Mund und sank zu Boden. Ich saß weinend gegen die Wand gekauert und gab ein bebendes Wimmern von mir, das wie das eines Tiers klang. Es war mir egal, wie lächerlich ich mich anhörte, oder ob einer der anderen aufwachen würde. Ich glaube, dass man schnell an einen Punkt kommen kann, wo man so u n glücklich ist, dass einem einfach alles egal ist.
    Wäre ich nur schneller gerannt. Warum war ich nicht schneller gerannt? Wenn ich nur in der Zeit zurückgehen und schneller rennen könnte – ich hätte es tun können, aber ich hatte geglaubt, dass wir in Sicherheit wären. Dann wurde mir in dem dunklen Raum plötzlich klar, dass niemand jemals in Sicherheit ist. Ich hätte schneller laufen können, aber ich hatte es nicht getan. Wenn ich es doch nur getan hätte. Warum hatte Gott mich nicht g e warnt, dass ich schneller laufen musste? Aber es gab ke i nen Gott. Und Stirling war nicht da, um mir zu sagen, dass es ihn doch gäbe.
    An jedem einzelnen Tag seines Lebens war er nichts anderes gewesen als gut und freundlich. Und ich hatte ihm nie gesagt, wie viel er mir bedeutete. Ich hatte ihm nie gesagt, dass ich ihn liebte. Ich war dem kleinen Sti r ling ein armseliger Bruder ge wesen. Allein in der Du n kelheit fiel mir nun jede ei n zelne ge m eine Sache ein, die ich je zu ihm gesagt hatte. Ich hatte nicht damit gerec h net, dass er sterben würde, bevor ich sie zurücknehmen konnte.
    Unaufhaltsam strömten die Tränen über mein Gesicht und meinen Mund hinunter zu meinem Mantelkragen. Selbst wenn ich die Lider zusammenkniff, rannen sie durch die Wimpern und fielen weiter.
    Stirling war so gut, und ich war so schlecht, und jetzt war ich zurückgeblieben, und er war fort. Ich wünschte mir, an seiner Stelle tot zu sein. Oder zumindest ebenfalls tot zu sein. Denn dann könnten wir vielleicht – nur vie l leicht – zusammen sein. Und selbst wenn wir nicht z u sammen wären, könnte ich möglicherweise aufhören zu existieren und einfach in der Erde liegen. Vielleicht könnte ich dann aufhören nachzudenken. Das war das Einzige, was ich wirklich wollte. Mehr erwartete ich nicht von meiner trostlosen Zukunft.
     
    Als ich aufhörte zu weinen, wurde es langsam wieder hell. Meine Wangen brannten von den bitteren Tränen, die noch immer auf ihnen lagen. Eine düstere Ruhe hatte sich über mich gelegt; sie war schlimmer als die wildeste Trauer, denn sie würde für immer anhalten. Ich konnte es in meinem Bauch, in meinem Kopf, in jedem Knochen spüren. Ich war zu müde, um mich zu bewegen. Ich b e trachtete mein Spiegelbild im Fensterglas – ein Fremder starrte zurück.
    Ich wusste nicht, warum ich zu weinen aufgehört ha t te. Die Traurigkeit in meinem Herzen ließ sich jetzt nicht leichter

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