Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
Tag eigentlich war. Es könnte Sonntag sein, oder wahrschei n lich sogar schon Montag. Ich gab auf. Als ich wi e der hinhörte, sprach Pater Dunstan gerade über Choräle und Bibelzitate. »Wollt ihr sie aussuchen?«
»Ich weiß nicht.« Großmutter wirkte sorgenvoll und den Tränen nahe.
»Vielleicht sollte ich ein paar vorschlagen.«
»Ja. Das wäre wohl das Beste. Ich danke Ihnen.«
Ich war hier überflüssig. Ich stand auf, und sie ve r suchten nicht, mich davon abzuhalten.
Draußen brach die Dunkelheit herein. Ich saß auf me i nem Bett und sah zu. Ich fühlte mich seltsam weit weg von allem. Wäre es eine normale Woche gewesen, wären wir heute in die Schule gegangen; wir würden jetzt, bei Einbruch der Dunkelheit, unsere Uniformen rauslegen, während Großmutter das Feuer und die Lampen anzü n dete. Stattdessen war dieses ganze Leben vollständig ve r schwunden. Ich beobachtete, wie sich der Himmel ve r dunkelte, und mir wurde klar, dass ich keine Gewissheit haben konnte, dass die Sonne wieder aufgehen würde. Nichts war mehr sicher, wenn Stirling sterben konnte und ich es einfach hinnehmen musste. Ich konnte mein Leben nicht länger vor mir sehen. Ich betete um ein Zeichen oder eine Stimme, die mir sagen würden, dass ich nur träumte. Aber es kam nichts. Ich konnte noch nicht mal die G e schichten über England heraufbeschwören, die mich durch die Berge getragen hatten. Mein Kopf war leer.
Auch in England wurde es gerade dunkel, und die ersten Sterne tauchten auf, während Anna und Ryan am Ufer des Sees standen. Der Zaun um das Herrenhaus zog sich bis zum Wasser hinunter, sodass Anna das Anwesen nicht betreten konnte. »Wi r m üssen leise reden, sonst wird mein Onkel uns hören«, sagte Ryan gerade über den Zaun hinweg. »Ich sollte im Moment eigentlich über meinem Astronomiebuch sitzen.«
»Dein Unterricht ist echt seltsam.« Anna sah zum Haus hinauf, wo ein einziges Fenster erleuchtet war. »Ich meine die Dinge, die dein Onkel dich lernen lässt.«
»Ich weiß. Als er damals nach England kam, hat er ein Buch über die früheren Adeligen gelesen und was ihre Söhne damals lernten. Und er fand, dass das genau die richtige Erziehung für mich wäre.«
»Also lernst du diese Sachen, weil ihr zum Landadel gehört?«
Er sah auf. Seine Augen waren dunkler als die Nacht. »Wer hat dir gesagt, dass wir zum Landadel gehören?«
Sie schüttelte den Kopf. »Niemand.«
Sie schwiegen, bis er sagte: »Wir sind – besser gesagt mein Onkel ist – vor zehn Jahren zu etwas Geld geko m men. Es ist inzwischen fast aufgebraucht.«
»Also lebt ihr hier, und euer Geld wird immer kna p per?«, fragte sie. »Was wird passieren, wenn es weg ist? Wirst du dir einen Job suchen?«
»Ich nicht. Aber mein Onkel vielleicht, er ist nämlich gelernter Butler, und er hat diese falschen … äh …« Er brach ab und sah weg.
»Diese falschen was? Falsche Papiere?« Er schüttelte den Kopf. »Du wolltest falsche Papiere sagen.« Die Dunkelheit machte sie mutiger. »Ich werde dich nie ve r stehen, Ryan.«
»Wahrscheinlich nicht.«
Anna musterte das Buch in seinen Händen. »Was ist das? Das andere Buch, das da in dem Lehrbuch über Anatomie steckt?«
»Oh – das ist Shakespeare.«
»Gehört das auch zu deinem Unterricht?«
»Nein, mein Onkel wäre wütend, wenn er wüsste, dass ic h d arin gelesen habe, anstatt die Sterne zu studieren. Er hält Shakespeare für Zeitverschwendung.«
»Warum denn?«
»Er gehört nicht zu unserer Kultur. Und mein Onkel hat für vieles, worüber Shakespeare schreibt, keine Zeit übrig. Er hält meine großen Zukunftspläne für wichtiger. Früher war ich seiner Meinung, aber inzwischen …«
Ihre Blicke trafen sich in der Dunkelheit.
»Jetzt was?«, fragte sie. Er antwortete nicht. Die Stille hielt an, und keiner von ihnen brach sie. Plötzlich schlug im Haus eine Tür zu, und sie zuckten zusammen.
»Jetzt nichts«, sagte er schließlich. »Ich sollte wieder reingehen. Bestimmt beobachtet mich mein Onkel, um festzustellen, ob ich meine Arbeit fertig mache.« Er dre h te sich um. »Da kommt er ja schon.«
»Soll ich gehen?«
»Nein, warte hier auf mich. Ich rede mit ihm und komme so schnell wie möglich zurück. Bitte warte.«
Anna ging ein Stück weg, bis sie im Schatten der Bäume stand, dann drehte sie sich wieder um. Sie konnte noch immer ihre Stimmen hören. »Was ist das?«
»Was meinst du, Onkel?«
»Dieses Buch da.« Es folgte Schweigen, dann ein u n geduldiges
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