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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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sie zum Grab, und als sie die Augen anschließend wieder auf mich richtete, schien sie mich plötzlich klar zu sehen. Sie streckte den Arm aus und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Du bist zurück«, sagte sie ruhig und knüpfte wieder an der Stelle an, wo sie zuvor abgebrochen hatte. »Oh, ich habe mir solche Sorgen gemacht, Leo. Wirst du nun bleiben?« Ich nickte, und sie drückte meine Schulter. »Dem Himmel sei Dank.«
    Dann trat sie einen Schritt zurück, um mich zu begu t achten. »Warum bist du so schmutzig? Und du siehst blass aus – hast du seit Samstag irgendetwas gegessen?« Sie legte mir die Hand ans Gesicht. »Was ist passiert, Leo? Ich dachte, du würdest an die Grenze gehen. Hast du beschlossen zurückzukommen?«
    Als ich keine Antwort gab, griff sie nach meinem Arm. »Komm, lass uns nach Hause gehen.« Die Situation erinnerte mich so plötzlich und so exakt an Stirlings B e erdigung, dass ich für einen Moment wieder dort war – in der Dunkelheit und dem trostlosen Regen neben Stirlings Grab.
    »Komm, Leo«, sagte sie noch einmal, und ich folgte ihr.
     
    Wir kamen gegen sieben zu Hause an.
    »Ich habe dich vermisst, Leo«, sagte Großmutter. »Ich fühlte mich so allein. Ich habe Stirling verloren, und ich hatte dich verloren. Da war nichts mehr außer meinen Gedanken und niemand, mit dem ich reden konnte; ni e mand, mit dem ich die Bürde von Stirlings Tod teilen konnte.« Sie begann zu weinen. Ich wünschte mir, sie würde nicht davon spr e chen, wenn es sie zum Weinen brachte. »Rede mit mir, Leo«, bat sie. »Sag etwas, um mich zu trösten.«
    Ich hätte es nicht gekonnt, selbst wenn ich gewillt g e wesen wäre, wieder zu sprechen.
    Sie griff mit ihren zitternden Händen nach meinen, und sie fühlten sich schwach, knochig und dünn wie P a pier an. »Ich vergesse immer wieder, dass Stirling tot ist, aber wie kann ich das? Alles hier erinnert mich an ihn – alles hier erinnert mich daran, dass er nicht mehr da ist. Und was gibt es jetzt für mich noch zu tun? Ich kann nicht arbeiten; ich habe keine Freunde; selbst Pater Du n stan kann nicht die ganze Zeit über hier sein. Die Kirche ist mein einziger Trost. Ich ertrage es nicht, allein hier zu sitzen, zu weinen und an Stirling zu denken.« Dann ve r suchte sie zu lächeln, und sie legte eine falsche Fröhlic h keit in ihre Stimme. »Aber jetzt, wo du da bist, Leo, wird es besser werden. Du weißt, wie sehr ich leide – ich weiß, dass du ebenfalls leidest. Wir können uns gegense i tig dabei helfen, dies durchzustehen.« Ich nickte und wollte meine Hand wegziehen. »Sieh dich nur an, Leo.« Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Du siehst krank aus. Geh nach unten und nimm eine Dusche, wä h rend ich dir eine Suppe koche.«
    Ich duschte, dann legte ich die Uniform zusammen, verstaute sie in der Truhe unter der Fensterbank, ve r steckte die Pistole unter ihr und zog wieder meine Al l tagssachen an – die schwarzen. Auch Großmutter war ganz in Schwarz. Es war üblich, einen Monat lang Schwarz zu tragen. Ich gelobte in diesem Moment, dass ich für immer Schwarz tragen würde. Aber ein Monat ist sowieso so lang wie die Ewigkeit, dachte ich düster, wenn es jetzt erst drei Tage her sein soll. Vom Schla f zimmer aus konnte ich Anselms dünnes Weinen und la u te Stimmen hören – Maria und ihre Mutter stritten wi e der.
    »Du siehst aus, als könntest du eine gute, warme Mahlzeit vertragen«, sagte Großmutter, als ich die K ü chentür öffnete. Sie briet gerade Zwiebeln in Öl an – ihre Schärfe ließ meine Augen tränen. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass Großmutter schon so bald aufmu n ternde Dinge sagen und Essen kochen konnte, so als hätte sie ihn bereits vergessen. Ich wünschte, ich würde wieder schwitzend durch die Berge stolpern, wo mein Leben wenigstens den Schmerz in meinem Herzen widerspi e gelte.
    »Jetzt werde ich mich um dich kümmern müssen.« Ich fragte nicht: »Warum jetzt?« – aber sie sagte trotzdem: »Jetzt, wo ich mich nicht mehr um Stirling kümmern kann, meine ich.«
    Sie fing an zu weinen. Ich ebenfalls. Ich versuchte, es zu unterdrücken, weil ich nicht wollte, dass sie mich trö s tete, aber ich schaffte es nicht.
    »Komm her, Leo.« Sie streckte mir die Hand entg e gen, doch ich schüttelte den Kopf, ging ins Schlafzimmer und machte die Tür hinter mir zu.
    »Leo!«, hörte ich sie ein paar Minuten später mit tr ä nenerstickter, vorgetäuschter Fröhlichkeit rufen. Obwohl ich nicht hungrig

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