Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
nicht. Sie hob den Mantel auf und versuchte unbeholfen, ihn mir um die Schultern zu legen. Ich schü t telte den Kopf und vergrub mein Gesicht in den Händen. Sie gab auf und sah dabei genauso erschöpft aus, wie ich mich fühlte. Dann kniete sie sich auf den Boden und weinte.
Etwas war aus meiner Manteltasche gefallen. Es war das schwarze Buch, dieses alte Buch, das ich Stirling vorgelesen hatte.
Sie hob es auf und schniefte dabei wie ein Kind. »Was ist das, Leo?« Sie blätterte durch die Seiten, dann schlug sie es zu und schluchzte laut auf. »Ich werde dich nie verstehen, Leo! Mit mir sprichst du kein einziges Wort, und trotzdem hast du all diese Geschichten geschri e ben?«
Ich schüttelte den Kopf. Das hatte ich nicht. Aber nachdem sie, noch immer weinend, zurück ins Woh n zimmer gegangen war, hob ich das Buch auf und blätterte durch die Seiten. Und obwohl ich die Worte nur grob überflog, erkannte ich sofort, was das für eine Geschichte war. Es war dieselbe wie in den Träumen, die mich schon seit Tagen verfolgten – sie handelte von Aldebaran, Anna und dem Prinzen. Und sie ging noch viele, viele Seiten weiter, so als ob der Ve r fasser glaubte, dass mich das immer noch interessieren würde.
Ich riss das Buch entlang des Rückens auseinander, sodass sich die Blätter auf dem staubigen Fußboden ve r teilten. Es machte mich krank, diese Worte dort zu sehen, so als ob die Dinge normal wären. Welche Bedeutung sollte diese Märchengeschichte jetzt noch für mich h a ben, nach allem, was geschehen war? Ich wollte keine Geschichten mehr. Ich wollte in Ruhe gelassen werden.
Doch später, als es dunkel wurde, sammelte ich die Se i ten wieder ein. Ich legte sie zwischen die beiden Buchd e ckel und steckte sie zurück in die Manteltasche, so wie ich es früher getan hätte. Das war die Geschichte, die ich Stirling vorgelesen hatte. Ob sie mir nun noch etwas b e deutete oder nicht, ihm hätte sie etwas bedeutet. Er hätte herausfinden wollen, was als Nächstes geschehen würde. Er hatte sich um sie wie um echte Menschen gesorgt – um diese drei, über die wir während der verzweifelten Tage, in denen er krank gewesen war, gelesen hatten. Ich konnte dieses Buch nicht wegwerfen.
Und ich konnte nicht verhindern, dass ich träumte. Vielleicht wollte ich es auch gar nicht. Denn solange ich in diesen seltsamen Träumen verloren war, wusste mein Herz nicht, dass Stirling tot war.
In England wurde es dunkel, und ein Wind war aufgez o gen, aber Anna war draußen auf dem Hof und tanzte u n ter der Sicherheitslampe.
Plötzlich tauchte Ryan am Rand der Dunkelheit auf. »Was machst du da?«
»Üben. Monica denkt, dass ich im Bett bin. Tagsüber habe ich keine Zeit, und abends lässt sie mich den Spe i sesaal nicht benutzen, weil ich sonst die Gäste stören könnte.«
Sie sahen sich schweigend an.
»Ich hab dich seit Tagen nicht besucht«, sagte Ryan schließlich. »Es tut mir leid. Ich wollte dir alles erklären, aber dann hat mein Onkel …« Er zuckte mit den Schu l tern und setzte sich auf eine niedrige Mauer. »Ich werde es dir jetzt erzählen. Wirst du mir zuhören?«
»Ja.«
Ein paar Gäste kamen an ihnen vorbei, entsorgten ihre Zigarettenkippen und gingen durch den Hoteleingang. Ryans Blick folgte ihnen, dann wandte sich der Junge wieder Anna zu.
»Zuerst mal wegen Aldebaran«, sagte er. »Arthur Field, wie du ihn nennst. Er ist nicht wirklich mein Großonkel.« Er machte eine Pause. »Ich verstoße gegen seine Anweisung, indem ich dir das erzähle. Aber ich denke, dass er vielleicht deiner sein könnte.« Anna öffn e te den Mund, um etwas zu sagen, doch er hob die Hand und fuhr fort: »Sein Bruder, Harold Field, hat vor langer Zeit hier in England gelebt. Hast du schon mal von ihm g e hört?«
»Harold Field? Er war mein Großvater. Ich habe ihn nie kennen gelernt, aber ich weiß, dass das sein Name war.«
»Bist du dir sicher?«
»Ja, ganz sicher.«
»Aldebaran ist derselben Meinung.«
Sie drehte sich plötzlich um.
»Wo gehst du hin?«
»Ich hole Monicas Foto von ihrem Vater.«
Anna rannte in die verlassene Küche und nahm das Foto vom Fensterbrett. Ryan erwartete sie an der Tür, als sie zurückkam. »Hier«, sagte sie und gab es ihm. Sie stand schweigend da, während er es sich ansah. Es war ein verblichenes Foto, aufgeno mm en von einem Passa n ten am Greysands Beach. Ihre Großmutter, die damals Ende zwanzig gewesen war, stand neben Annas unb e kanntem Großvater. Der Mann sah mit
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