Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
Prophezeiung bald erfüllen wird – ich bin mir ganz sicher. Diese zehn Jahre waren nur geliehene Zeit, in der ich vor einem Verhängnis flüchtete, das mich sicher einholen wird. Werde ich die einzige Familie verlieren, die ich habe? Wäre das im Sinne der Gerechtigkeit? Ich weiß nicht, wie diese E r leuchteten denken, wenn sie ihre Prophezeiungen au f schreiben, und ich habe nicht die Macht, den Lauf des Schicksals zu verändern.« Er stand wieder auf. »Ich we r de nicht zulassen, dass sie dich töten. Ich kann nach dem Blut seiner Mutter und seines Vaters nicht auch noch deins an den Händen haben. Verstehst du, was ich sage?«
»Ich weiß nicht.«
»Meine Familie bedeutet mir genauso viel, wie dem Prinze n s eine bedeutet hat. Vielleicht sollte ich meinem letzten Verwandten schreiben. Vielleicht sollte ich ihn wissen lassen …« Er sah sie an. »Sollte ich? Sag es mir.« Er lehnte sich über den Tisch und wartete auf eine An t wort.
»Ja«, sagte sie schließlich. »Sie sollten ihm schre i ben.«
Er nickte. »Wenn ich das tue – wenn ich dich beschü t ze oder dir sogar bei der Flucht helfe –, wird es gefäh r lich werden. In dem Fall werde ich das Ganze mögl i cherweise nicht lebend überstehen, und es wird zu spät sein, noch irgendetwas in Ordnung zu bringen. Unser Land befindet sich in einer schlimmen Lage – das musst du begreifen. Falls die Rebellen den Jungen zurückbri n gen und die Regierung stürzen, werde ich der Erste sein, den man hinrichtet. Aber wenn ich nicht versuche wi e dergutzumachen, was ich getan habe, erwartet mich ve r mutlich eine noch schlimmere Strafe, ob wir nun an der Macht bleiben oder nicht.«
Draußen ertönten plötzlich Schritte. Jemand war im Korridor. Ahira verstummte, und sie lauschten. Im näch s ten Moment wurde gegen die Tür gehämmert. Ahira durchquerte den Raum und öffnete.
Vor ihm stand Darius. Er musterte sie mit einem schwachen Lächeln. »Und da heißt es, ich hätte keinen Stolz.«
»Was willst du damit sagen?«
»Nichts, Sir. Gar nichts. Der König braucht Sie. U n verzüglich.«
Ahira blieb, den Blick auf Anna gerichtet, in der Tür stehen, während Darius sie an den Stuhl fesselte und die Lampe ausblies. Er sah sie an, bis sich die Tür zwischen ihnen schloss und Darius den Riegel vorlegte. Sie hörte, wie die Schritte der Männer leiser wurden.
In dieser Nacht wachte ich gegen elf auf. Ich war früh zu Bett gegangen, weil der Regen eine freudlose Dunke l heit über die Stadt gebracht hatte, und hatte geschlafen, ohne zu träumen. Jetzt war ich hellwach, und alles war auf einmal ganz friedlich. Ich konnte es nicht erklären. Es fühlte sich an, als ob alles gut werden würde. Obwohl es keinen Grund für die Veränderung gab, war ich ruh i ger, als ich es irgendwann einmal seit Stirlings Tod g e wesen war, so als ob ich die Zeitung auf einmal wieder pro b lemlos von Anfang bis Ende durchlesen könnte.
Plötzlich war ich mir sicher, dass Großmutter wegg e gangen war. Sie war nicht in der Wohnung. Ich versuc h te, nach ihren Atemzügen zu lauschen, aber das konnte ich aus dieser Entfernung nicht, deshalb stand ich auf und ging in ihr Zimmer. Ich hatte Recht. Ihr Bett war leer, die Decke beiseitegeworfen. Sie war nirgendwo in der Wo h nung. Ich rannte in mein Zimmer zurück und zog irgen d etwas an. Ich nahm meine Schlüssel, sah noch ein let z tes Mal nach – sie war wirklich weg – und ging hinaus.
Die Wohnungstür stand einen Spalt breit offen, genau wie unten die Haustür. Ich schloss beide beim Rausgehen hinter mir. Vielleicht war sie zum Friedhof gegangen. Ich bog in die Straße ein und blinzelte gegen das Licht der Straßenlaterne. Sie war nirgendwo zu sehen. Ich wandte mich nach links und rannte los.
Ich entdeckte sie in einer schmalen, dunklen Gasse ganz in der Nähe. Sie hatte nur ihr Nachthemd an, dessen dünner Stoff sich in der nächtlichen Brise an sie schmie g te. Ich hatte solche Angst, dass ich noch nicht mal daran dachte, nicht zu sprechen.
»Großmutter?«, rief ich. »Was machst du hier?« Sie hörte mich nicht und murmelte stattdessen wütend vor sich hin. Als ich sie erreicht hatte, zog ich meine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern, um sie zu bed e cken. Sie schien mich nicht wahrzunehmen. »Großmu t ter, komm mit nach Hause.«
Sie erlaubte mir, sie wegzuführen, aber plötzlich b e gann si e z u schreien. Die Worte, die sie brüllte, waren völlig unverständlich. Sie durchdrangen harsch die Stille, und
Weitere Kostenlose Bücher