Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
ich versuchte, sie zu beruhigen, aber sie schrie nur noch lauter. In einem der Häuser kam ein Mann ans Fe n ster und sah schlaftrunken und stirnrunzelnd zu uns he r unter.
»Pssst, Großmutter«, sagte ich.
Da bogen zwei Soldaten um die Ecke. Unsere Blicke trafen sich. Ich versuchte, Großmutter wegzuziehen, aber sie blieb reglos mitten auf der Straße stehen. Ich warf hastig einen Blick nach hinten und sah, dass die Soldaten auf uns zumarschierten.
»Großmutter«, flüsterte ich. »Psst. Sei still. Lass uns schnell heimgehen.«
»Hey!«, rief einer der Männer.
»Geh weiter«, flüsterte ich Großmutter zu.
»Hey, Kumpel! Wohin willst du mitten in der Nacht?«
»Nach Hause.«
»Warte hier«, wies der Soldat den anderen an und eilte auf uns zu.
»Bleib, wo du bist!«, befahl mir der Soldat. Ich blieb st e hen. »Wohin gehst du mit dieser wahnsinnigen Frau?«
»Sie ist nicht wahnsinnig.«
»Sie ist eine Ungeduldete. Sie sollte unter entspr e chender Aufsicht stehen.«
»Sie ist nicht wahnsinnig«, wiederholte ich.
»Sie stört die Nachtruhe.«
»Deshalb bringe ich sie gerade nach Hause.«
Er stand nun neben uns und stieß mich wütend gegen die Schulter. »Wag es nicht, in so einem Ton mit mir zu sprechen, du arroganter kleiner Scheißer.«
Ich stolperte und fluchte.
»Was hast du gesagt?«
»Nichts.« Wir traten vorsichtig den Rückzug an; Großmutter eilte meiner sie führenden Hand voraus und warf dabei ängstliche Blicke nach hinten zu den Sold a ten.
»Was hast du gesagt?«, fragte er wieder.
»Nichts.«
»Hey. Ich hab gesagt, du sollst dich nicht von der Ste l le rühren. Willst du ebenfalls verhaftet werden?«
»Sie werden keinen von uns verhaften. Wir gehen jetzt.«
»Bleib, wo du bist.« Er bekam Großmutter zu fassen und zwang sie, stehen zu bleiben. Augenblicklich zerri s sen ihre Schreie die klamme Stille. »Halten Sie den Mund!«, befahl er ihr.
Sie schrie weiter.
»Hören Sie auf!«, rief ich. »Lassen Sie sie gehen!« Ich grabschte nach ihm.
»Nimm die Finger von mir!«, brüllte er.
Großmutter schrie weiter. Die Jacke fiel von ihren Schultern, und ihr Haar löste sich aus dem straffen Kn o ten und hing ihr nun ungebändigt um das entsetzte G e sicht.
Ich griff nach dem Gewehr, das über dem Rücken des Soldaten hing – das Erstbeste, was ich zu fassen bekam – und riss daran, so fest ich konnte.
»Lass los!«
»Lassen Sie zuerst sie los«, schrie ich zurück.
Der Gewehrriemen würgte ihn am Hals – er hustete, und seine Hände lockerten ihren Griff. Ich zog weiter an. Großmutters Schreie wurden immer wilder.
Plötzlich riss der Riemen. Durch dieses unerwartete Nachgeben stürzte ich in den Morast und Großmutter mit mir. Ihr Geschrei brach abrupt ab. Schlammtriefend und noch immer mit dem Gewehr des Soldaten in der Hand stand ich auf, wischte mir das Wasser und die Erde aus den Augen und stolperte zu ihr. Sie bewegte sich nicht.
»Großmutter?« Ich fiel neben ihr auf die Knie. Sie war in Ohnmacht gefallen und immer noch bewusstlos. Ich drehte sie um, wischte ihr den Matsch aus dem Gesicht und rüttelte sie an den Schultern. Die Soldaten waren in die Nacht geflüchtet. »Großmutter!«, wiederholte ich drängend. »Wach auf!«
Während ich dort kniete, hörte ich ein Geräusch, das lauter war als das Tröpfeln des Regens von den verschl a fenen Häusern und immer deutlicher wurde. Es war das Geräusch von Schritten. Von gleichmäßigen Schritten, die immer näher kamen. Ich hob den Kopf und sah eine dunkle Gestalt, die unaufhaltsam auf mich zukam. Die Gestalt glitt mit langen Schritten die Straße herauf, doch ihr Gesicht blieb die ganze Zeit über schattenhaft. Aber an der Neigung ihres Kopfes konnte ich erkennen, dass sie mich direkt ansah. Das Weiße ihrer Augen schimme r te im Licht der Straßenlaterne, während sie sich näherte. Ich blieb ganz still, kauerte reglos und zitternd wie ein Tier auf dem Boden.
»Leo?«, fragte die Gestalt plötzlich. »Leo! Ich hab dich gar nicht erkannt. Was machst du hier?« Sie nahm ihre Kapuze ab, und ich sah, dass es Pater Dunstan war. »Leo! Was ist passiert?«
»Pater! Es ist wegen Großmutter. Sie ist zusamme n gebrochen, und ich kann sie nicht wecken. Die Soldaten kamen und …«
Er ging neben mir in die Hocke. »Margaret?« Er u m fasste ihre Schultern. »Margaret, können Sie mich h ö ren?«
»Pater, Pater«, sagte ich plötzlich wie ein Kind, das Trost bei seinem Vater sucht. Ich griff nach seinem
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