Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
»Jetzt halt den Mund.«
Schweigend gingen sie weiter durch die von Fackeln erleuchteten Korridore unter der Burg. Der jüngste der Männer zündete sich im Vorbeigehen an einer von ihnen eine Zigarette an. Ahira warf ihm einen finsteren Blick zu, sagte jedoch nichts. Er marschierte voraus, und die beiden jüngeren Soldaten sahen sich an.
»Da drüben sind die Kerker«, sagte Darius zu Anna und verstärkte dabei den Druck auf ihren Arm.
Die Schatten tanzten und flackerten. Plötzlich war ein wimmerndes Geräusch zu hören, und Anna zuckte z u sammen.
»Hörst du das?«, fragte Darius. »Das ist ein König s verräter. Er ist ein gefährlicher Irrer aus der Klasse der Ungeduldeten. Er wird morgen als Warnung für die Ö f fentlichkeit hingerichtet.« Er stieß sie auf die Zellentür zu. Dahinter saß ein alter Mann und weinte. »Willst du wissen, wie sie ihn hinrichten werden?« Er zog sie wi e der den Korridor entlang.
»Nein«, sagte Anna.
»Ich werde es dir trotzdem sagen. Zehn Kugeln – ke i ne mehr und keine weniger – und jede davon trifft ins Ziel. Sie stehen draußen im Hof und zählen rückwärts bis zu dem Moment, wenn sie schießen. Von dreißig ang e fangen – sehr langsam. Du solltest die Verurteilten sehen. Sie werden mit jeder Zahl blasser. Manche pissen sich in die Hose. Manche übergeben sich. Es ist schon seltsam, was so etwas mit dem Gehirn anstellt.« Sein leises L a chen hallte von den Wänden des Korridors wider. »Ein i ge der Frauen fallen in Ohnmacht. Wir erschießen sie trotzdem. Ich hab schon jede Menge Verräter hingeric h tet.«
»Hör auf damit«, verlangte der junge Mann. »Sie ist nicht dein Mädchen, vor dem du angeben musst. Und sie will es nicht hören.«
»Vielleicht interessiert es sie«, widersprach Darius. »Vielleicht ist es genau das, was mit ihr passieren wird.«
Der junge Mann lachte unbehaglich. »Darius …«
»Ich meine es ernst. Sie ist Teil der Prophezeiung. Wenn Ahira an sie glaubt, ergibt es genauso viel Sinn, sie zu erschießen, wie den Silberadler zurückzubringen.« Er hob die Stimme. »Sir?«
Ahira drehte sich um. »Was ist?«
»Ich habe nur gerade angemerkt, dass es klug wäre, das Mädchen zu töten.«
»Ich denke, der König und Talitha wissen besser, was klug ist und was nicht«, sagte Ahira. »Hör auf, hinter mir herzulaufen. Ich bin kein verdammter Schullehrer. Komm her, Darius, und erzähl mir, was Talitha unten auf dem Platz zu dir gesagt hat.«
»In Ordnung, aber wo waren Sie eigentlich?« Darius ließ Anna in der Obhut des jüngeren Mannes zurück und trabte nach vorne, bis er Ahira eingeholt hatte. »Wir h a ben ganze zehn Minuten in der Kutsche gewartet, bevor Sie wieder in der realen Welt aufgetaucht sind.«
»Darüber brauchst du dir nicht den Kopf zu zerbr e chen. Erzähl mir lieber, was Talitha gesagt hat.«
»Aldebaran hat Unruhen angezettelt. Die Revolution steht unmittelbar bevor.« Dann senkte er die Stimme, d a mit Anna und der junge Soldat ihn nicht hören kon n ten.
»Wir haben die halbe Stadt abgeriegelt und Talitha für mindestens einen Tag von der Front weggeholt«, mu r melte Letzterer wie zu sich selbst. »Wir hätten zumindest dafür sorgen sollen, dass wir den Silberadler zurückbri n gen.«
Ahira sah zu ihm zurück, und der Soldat verstummte. Doch eine Minute später wagte er einen neuen Vorstoß. »Sir, Sie hätten den Jungen nicht verletzen sollen.«
Dieses Mal begnügte sich Ahira nicht mit einem w ü tenden Blick. »Wirst du endlich den Mund halten?«, schrie er so laut, dass Anna zusammenzuckte.
»Tut mir leid«, stammelte der junge Mann. »Es tut mir leid.« Seine Hand auf Annas Arm zitterte.
»Dem Jungen wird schon nichts fehlen«, sagte Ahira dann sehr leise. Während sie, die Hände hinter dem R ü cken gefesselt, die Treppe hochstolperte, begann Anna zu b e ten, dass er Recht hatte.
Sie erreichten einen weitläufigen Saal, dessen Wände gesäumt waren mit geschnitzten Täfelungen. Wachen öffneten ihnen die Tür, Ahira schob die jüngeren Sold a ten hindurch – und zögerte für einen Moment.
»Hör zu«, sagte er mit gesenkter Stimme zu Anna. »Du musst keine Angst haben.« Er sah sie dabei so sel t sam an, dass sie wie angewurzelt stehen blieb. »Geh jetzt«, sagte er im nächsten Augenblick schroff. »Rasch. Der König kann nicht ewig warten.«
Unruhiges Licht flackerte über die Wände des niedr i gen Raums. Der Schein des Feuers und der Kerzen ble n dete Anna, und als sie aufsah,
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