Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
andere Person, die gleic h zeitig versuchte, uns zu trennen. Im nächsten Augenblick verstand ich sie. »Tu Anselm nicht weh! Tu Anselm nicht weh!«
Ich fiel auf die Knie. Da war Blut auf meiner Stirn – er musste mich getroffen haben. Maria war diejenige, die uns getrennt hatte. Sie kniete jetzt im Nachthemd vor mir, mit dem brüllenden Baby im Arm. Der Soldat hast e te die Treppe hinunter.
»Ich habe Lärm gehört und bin gekommen, um nac h zusehen.« Maria war ganz außer Atem. »Leo, ich wollte nicht, dass du dich in schlimme Schwierigkeiten bringst – du hast ausgesehen, als ob du ihn umbringen wolltest. Wer war der Mann? Was wollte er?«
Sie fasste nach meiner Hand. Ich wollte nicht, dass sie mich berührte. Noch immer zitternd, taumelte ich von ihr weg. Ich fürchtete mich inzwischen vor mir selbst, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich stand auf, rannte die Treppe hinunter und mühte mich dabei mit dem Sich e rungshebel des Gewehrs ab. Ich konnte Großmutter i m mer noch schluchzen hören, und Maria rief mir hinterher zurückzukommen. Am Fuß der Treppe stolperte ich und prallte hart auf den Boden. Ich kam wieder auf die Füße, riss die Haustür auf und rannte hinaus in die Gasse.
Sie war menschenleer. Der Soldat war verschwunden.
Trotzdem feuerte ich in die Stille hinein einen Schuss ab. Dann sank ich auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Was war das?«, fragte Lucien auf dem Balkon. Der fe r ne Ge wehrschuss hatte einen Vogel in den Bäumen des tiefer gelegenen Dachgartens aufgeschreckt.
»Ein Unruhestifter irgendwo in der Stadt«, erwiderte Talitha . »Die Gesetzeshüter werden sich sicherlich um ihn kümmern.«
Lucien nickte, doch sein Blick war düster geworden. Die anderen beobachteten ihn schweigend. Ahira stand ein Stück abseits und starrte stirnrunzelnd in die Nacht. Gerade eben war Darius zusammen mit Anna unbemerkt zu ihnen gestoßen. Kanonen zeigten von diesem höchsten Balkon aus zum Sternenhimmel empor, den Anna nun betrachtete.
Darius trat vor. »Hier ist das Mädchen, Majestät. Sie haben sie holen lassen.«
Lucien drehte sich um. Talitha blieb mit dem Rücken zu den anderen stehen, sodass Anna ihr Gesicht nicht sehen konnte.
Lucien machte ein paar Schritte auf Anna zu. »Du hast den Silberadler nicht? Du trägst ihn nicht bei dir, hier in Malonia ?«
»Nein.«
Lucien starrte sie einen Moment lang an. Dann mu r melte er etwas in Talithas Richtung, und sie drehte sich um und sah Anna an.
Anna war verwirrt. Ryan hatte gesagt, dass Talitha dreißig Jahre lang mit Aldebaran für den Geheimdienst gearbeitet hatte, aber das war unmöglich. Diese Frau war jung – nicht älter als dreißig; sie war sehr schön, mit i h ren tiefroten Lippen und den dunklen Wimpern. Sie sah nicht wie eine Magiegelehrte aus. Sie wirkte weder erh a ben noch weise. Nun legte sie den Arm um Luciens Schultern und ließ ihren Mund träge an der Seite seines Gesichts entlanggleiten, und er presste es an ihren Hals, während er sprach.
Talitha antwortete mit leiser Stimme. Anna zuckte plötzlich zusammen. Sie hatte das Gefühl, als wäre i r gendetwas in ihrem Kopf. Eine Spinne krabbelte in ihrem Kopf herum, kroch über alles, was sie je gedacht oder gefühlt hatte. Talitha starrte sie seltsam an. Anna ve r suchte wegzusehen und an nichts zu denken, aber sie konnte nicht – sie konnte die Augen nicht abwenden.
»Sie hat die Halskette nicht«, flüsterte Talitha Lucien zu. Dann senkte sie die Stimme noch weiter, damit ni e mand sonst sie hören konnte. Die anderen warteten. Ah i ra warf Anna einen kurzen Blick zu, dann drehte er sich weg und ließ den Blick wieder über die stille Stadt schweifen.
»Was, wenn das Mädchen die Halskette Cassius gar nicht geschenkt hat?«, fragte Lucien.
»Was soll dann sein? Es spielt keine Rolle. Die Kette ist das Wichtige, das Schenken ist ohne Bedeutung. Das b e legt die Wissenschaft.« Sie hielt kurz inne. »Aber da gibt es noch eine interessante Sache, Majestät. Dieses Mädchen ist nicht unwichtig. Sie ist eine englische Ve r wan d te Aldebarans.«
»Was bedeutet das?«, fragte Lucien. »Dass wir sie als Geisel benutzen können? Um Aldebaran dazu zu zwi n gen, den Silberadler aufzugeben? Du sprichst von Folter …«
Talitha flüsterte weiter auf ihn ein, und Lucien nickte bei allem, was sie sagte. Dann wandte er sich Anna zu und betrachtete sie für einen Moment. »Es ist zwar b e dauerlich, aber uns bleibt keine andere Wahl. Wir können
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