Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
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»Da draußen braut sich ein Sturm zusammen«, sagte Ryan. »Bist du davon aufgewacht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es war bloß ein Albtraum. Es hat mir nicht gefallen, in diesem Krankenhaus zu sein. Es erinnerte mich an …« Sie zuckte die Achseln, »früh e re Zeiten. Es tut mir leid, falls ich dich aufgeweckt h a be.«
»Ich habe nicht geschlafen. Mein Onkel hat mir Arbeit für ein ganzes Jahr dagelassen. Politik und Gesetze, und ich muss das alles wissen. Er ist nicht zu weit weg, um mich zu kontrollieren.«
Sie setzte sich zurück aufs Bett. Er nahm kurz ihre Hand, ließ sie jedoch gleich wieder los.
»Von jetzt an wird alles anders werden«, sagte Anna. »Ich werde härter trainieren als je zuvor. Ich hätte sterben können, aber ich tat es nicht. Weißt du, was ich meine?«
»Ja.« Er klappte das Buch in seinen Händen zu und legte es auf den Boden, dann lehnte er sich nach vorne und sah sie an.
»Was ist?«
»Anna, geht es dir jetzt wirklich wieder gut? Als du in Malonia warst – ich weiß nicht –, es muss dir große Angst gemacht haben. Ist es das, wovon du träumst? Hast du deswegen Albträume?«
Sie zog die Decke enger um sich. »Vielleicht zum Teil. Im Tageslicht hatte ich es fast vergessen. Aber s o bald ich eingeschlafen war, konnte ich es wieder sehen. Ich konnte alle ihre Gesichter sehen, so als ob ich wir k lich dort wäre. Es war realer als in einem Traum.«
Ryan nickte. »Nachdem man mich verbannt hatte, träumte ich oft, dass ich wieder in Malonia wäre. Ich sah dann immer meine Eltern und dachte: Gib mir nur fünf Minuten mehr, dann wird es die Wirklichkeit sein – ich werde irgendwie zurückkehren, zurück in mein Leben, wie es früher war. Aber ich bekam diese fünf Minuten nie – ich wachte immer auf.«
Sie schwiegen eine Weile.
»Ich habe heute über Talitha nachgedacht«, sagte R y an schließlich mit veränderter Stimme. »Die Revoluti o näre haben sie gefangen genommen, und sie wird den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen. Eine meiner Pflichten wird es sein, öffentlich über sie zu richten und damit den ersten Verbrecher meiner Regentschaft zu ve r urteilen. Eine alte Tradition.«
»Dafür bist du zuständig?«
»Ich werde für viele Dinge zuständig sein. Es macht mir Angst, darüber nachzudenken. Ich kann nicht über eine Erleuchtete das Urteil sprechen, selbst über sie nicht. Sie ist eine sehr berühmte Frau, und trotz ihres schönen Gesichts fürchte ich mich vor ihr.«
»Sie ist so jung. Ich dachte, du hättest gesagt, dass sie mit Aldebaran beim Geheimdienst gearbeitet hat.«
»Nein – sie ist genauso alt wie er, oder vielleicht ein Jahr älter. Talitha besitzt große Macht, und die Spuren des Alters lassen sich leicht vermeiden, wenn man es darauf anlegt. Selbst Aldebaran macht etwas dagegen, glaube ich – zwar nicht viel, aber man würde ihn trot z dem nicht auf siebzig schätzen.« Ryan verschränkte die Arme und betrachtete den Mond, der still über den H ü geln lag. »Aldebaran ist der Meinung, dass wir aus den Fehlern der alten Regierung lernen müssen. Talitha war nicht weise genug. Lucien wurde vom Volk nicht geliebt. Und sie waren auf zu persönlicher Ebene miteinander verbunden.« Er schüttelte den Kopf. »Aldebaran hat mich mit Prophezeiungen und Mythen umgeben und mich als Einzelperson pop ul är gemacht. Genau das G e genteil von dem, was Luden war. Ich hoffe, dass es fun k tionieren wird, aber …« Er wandte sich ihr zu. »Manc h mal wünsche ich mir, ein englischer Junge zu sein. Ich war immer allein, selbst hier in England. Aber jetzt habe ich dich, und alles hat sich verändert. Ich will kein König sein. Manchmal habe ich Zweifel, ob ich überhaupt an diese Dinge glaube. Und trotzdem soll ich diesen Platz einnehmen, den man für mich vorbereitet hat. Verstehst du, was ich meine?«
»Ja, ich verstehe es. Hast du mit Aldebaran darüber gesprochen?«
»Ich kann jetzt nichts mehr ändern. Aber ich bin trot z dem sehr froh, mit dir darüber reden zu können.« Er stand auf und ging zum Fenster. »Anna, soll ich hie r ble i ben, bis du eingeschlafen bist? Es macht mir nichts aus.«
»In Ordnung. Danke.«
Nach einer Weile sagte sie: »Lucien sah aus wie du. Das habe ich dir nie gesagt.«
Ryan lächelte traurig. »Aldebaran behauptet, er hätte mir ähnlicher gesehen als mein eigener Vater. Aber so ist das Leben.« Er schüttelte den Kopf. »Diese ganze Sache ist seltsam. Wenn ich noch ein paar Jahre länger hier in
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