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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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mich wie in einem Traum gefühlt. So als könnte ich aufwachen, und Stirling würde zur Tür reinkommen, und alles wäre nur ein Irrtum gewesen. Aber der Traum ging weiter, und ich wachte nicht auf. Ich wollte die Zeit anhalten und sie irgendwie zu dem Punkt zurückzerren, an dem das Leben noch einen Sinn hatte. Die Welt drehte sich zu schnell weiter, und jeder Tag, der verging, drängte meine Hoffnung, dass Stirling zurückkommen würde, in immer weitere Ferne. Das Gras stand inzwischen hoch; die Worte auf dem Kreuz ve r blassten ; aus den Tagen, die bereits vergangen waren, würden schließlich Monate und Jahre werden. Und ich wurde von dieser Müdigkeit – dieser traumähnlichen, kranken Müdigkeit – übermannt, und ich ließ es zu.
    Am Ende konnte ich also nichts weiter tun, als an Sti r lings Grab zu sitzen, während die Nacht dunkler wurde. Dann drehte ich mich um und ging nach Hause.
    Ich würde lügen, wenn ich behauptete, die ungewoh n ten Flaggen auf der Burg bemerkt zu haben. Ich tat es nicht. Ebenso wenig bemerkte ich die Parolen auf den Häuserwänden. Wa s i ch allerdings bemerkte, war die Abwesenheit der Soldaten. Es befanden sich keine Sold a ten mehr in der Stadt. Ich hielt hinter jeder Ecke nach ihnen Ausschau, aber sie waren nicht da. Die Straßen waren wie ausgestorben.
     
    Wenn man träumt, weiß man nie, wann man aufwachen wird. Manchmal kann das beängstigend sein. Genau so war es mit dieser seltsamen Müdigkeit, die mich seit dem Abend, als Ahira vom Pferd stürzte, umfing. Ich war z u rück in der Wohnung und wusste, dass ich nicht schlafen würde, deshalb stapelte ich das Geschirr vom Abende s sen aufeinander und brachte es runter in den Hof, um es abzuspülen. Ich hätte das Wasser in einem Eimer nach oben holen können, aber ich hatte nicht die Kraft dazu.
    Unten im Hof herrschte Stille. Die Wasserpumpe warf einen langen Schatten über den Boden. Im Licht des Mondes wusch ich das Geschirr, dann türmte ich es wi e der aufeinander und ging leise die Treppe hoch. Ich konnte an der Stille erkennen, dass alle anderen Hausb e wohner schliefen. Sogar Großmutter – sie hatte schon geschlafen, als ich vom Friedhof zurückgekommen war.
    Zurück in der Wohnung stellte ich das Geschirr auf den Tisch, dann drehte mich um und wollte die Tür z u machen. Und plötzlich erwachte ich aus meinem Traum, und mir wurde klar, was ich getan hatte. Vor weniger als einer Woche hatte ich Ahira erschossen und zugesehen, wie er neben meinen Füßen auf der schlammbedeckten Straße starb – und hier war ich nun und wusch Teller ab, so als wäre nichts geschehen. Ich hatte nicht viel darüber nachgedacht, während die Gewehrsalven und Explosi o nen uns wach und in Angst gehalten hatten. Nun kam es mir plötzlich so vor, als würde ich in mein normales L e ben zurückfallen. Aber wie könnte ich das tun? Wie könnte ich jemals glauben, dass die Dinge wieder normal werden würden?
    Ich wünschte mir von ganzem Herzen, diese Wohnung ve rl assen und niemals zurückkehren zu können. Auf a l lem sammelte sich der Staub. Großmutters schlafendes Gesicht wirkte im Halbdunkel seltsam alt und verblasst. Meine Familie war nicht länger in Sicherheit. Großmutter verlor gerade den Verstand. Stirling war gestorben. Ich hatte diesen Mann erschossen. Mein Leben war zerstört, und ich gaukelte Normalität vor, als ob es dadurch i r gendwann wieder heil werden könnte.
    Ich schlich durch die leere Wohnung. Stirlings sorgfä l tig arrangierte Schnürsenkel und Großmutters alter Schaukelstuhl, der so still und leer war, als ob sie schon tot wäre, machten mich vor Angst ganz krank. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass ich hier nicht weiterleben konnte. Ich wollte aufstehen und weggehen. Ich wollte all das hier hinter mir lassen. Ich war nach Hause z u rückgekommen, weil ich mir Sorgen machte, was mit Großmutter passieren würde, wenn ich sie allein ließ, und weil ich mich nicht erschießen konnte – ich konnte es einfach nicht. Aber jetzt glitt ich in den Alltag zurück, so als ob ich Stirling schon vergessen hätte und Ahiras Blut an den Händen von jemand anderem wäre. Mir wurde übel, wenn ich daran dachte – dass ich mich heute Mo r gen angezogen hatte und nach unten gegangen war, um Wasser zu holen, obwohl ich ein Mörder war. Und ni e mand wusste es.
    »Leo?«, sagte hinter mir eine Stimme, und ich drehte mich um. Ich schätze, ich hatte die Tür doch nicht zug e macht, denn neben mir stand Maria, mit Anselm im

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