Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
England gelebt hätte, hätte ich irgendwann angefangen zu glauben, dass der Rest nur ein Traum war.«
»Leo, was machst du da?«, fragte Großmutter. Es war Nachmittag, das erkannte ich am Licht. Ich saß auf der Fensterbank, wie ich es früher oft getan hatte. Und ich schrieb gerade etwas. »Ich dachte, du würdest schlafen. Was schreibst du da?«
Ich wusste es nicht. Ich hatte geschlafen, aber jetzt kritzelte ich auf den Seitenrand der Zeitung, als müsste ich etwas Wichtiges notieren. Und die Handschrift sah nicht wie meine eigene aus. Sie sah aus wie die von di e sem geheimnisvollen Autor – dieser Erleuchtete, über den Stirling und ich uns so lange u nt erhalten hatten –, der in dieses Buch geschrieben hatte, das ich dann irgen d wann wegwarf. Erschrocken blätterte ich die Seiten um. Ich hatte alles Mögliche geschrieben. Die Namen stachen aus dem restlichen Text heraus – Aldebaran; Ryan; A n na.
Ohne die Worte zu lesen, faltete ich die Zeitung z u sammen und verstaute sie in der Truhe unter dem Fen s terbrett. Damals hatte ich die ganze Zeit über befürchtet, dass jemand versuchte, mit uns zu kommunizieren; ein mächtiger Erleuchteter, vielleicht sogar Aldebaran höchstpersönlich. Ich wusste nicht, was ich jetzt denken sollte. War das also das ganze große Geheimnis – dieses Mysterium, das uns durch Stirlings Krankheit begleitet und mich von Ositha nach Hause gebracht hatte? Nur eine Geschichte, die ich geschrieben hatte, weil ich ve r zweifelt war und von seltsamen Träumen geplagt wurde? Ich stellte fest, dass der letzte Rest Magie sich verflüc h tigt hatte. Es kümmerte mich nicht.
»Die Schüsse haben aufgehört, dem Himmel sei Dank«, sagte Großmutter. Sie saß so wie früher in ihrem alten Schaukelstuhl. Sie hatte die Vorhänge zurückgez o gen, und das Zimmer war so hell und fremdartig, dass meine Augen zu tränen anfingen. Wir hatten die Sche i ben während der letzten Tage verhängt. Ich trat in den Schatten des vernagelten Fensters. »Hast du es bemerkt, Leo? Hast du die Stille bemerkt?«
Nickend setzte ich mich an den Tisch.
»Maria ist vorbeigekommen, als du geschlafen hast«, sagte Großmutter. »Sie meint, dass es draußen jetzt wi e der sicher ist und die Zeitungen vielleicht schon wieder berichten. Sie ist in die Stadt gegangen, um herauszufi n den, was passiert ist.«
Niemand von uns hatte während dieser letzten Tage gewusst, was draußen geschah. Wir waren im Haus g e blieben und hatten die Nächte durchwacht, während he f tiges Geschützfeuer die Dunkelheit erschütterte und in weiter Ferne Glasscheiben zerbarsten.
Jede Nacht war es so gewesen. Manche Leute sagten, es wären die alcyrischen Soldaten oder Rebellen, aber das waren nur Gerüchte. Pater Dunstan war ein paar Mal vorbeigekommen. Falls er wusste, was dort draußen in der Stadt vor sich ging, kann ich mich nicht erinnern, dass er es uns erzählt hätte. Die Straßen waren wie au s gestorben. Selbst die Soldaten patrouillierten nicht mehr.
»Sie sind nie zurückgekommen«, sagte Großmutter, als ob sie meine Gedanken lesen könnte. »Diese Soldaten sind nie zurückgekommen, um mich abzuholen. Die Drohungen dieser jungen Männer sind größer als ihre Taten.« Sie lächelte, wenn auch zaghaft.
Ich nickte. Aber trotzdem kontrollierte ich anschli e ßend zum hundertsten Mal, ob die Tür verriegelt war.
»Die Dinge verändern sich. Ich bin mir sicher, dass sie das tun. Ich muss zugeben, dass ich mich zu alt für all das fühle. Zum Glück ist es zumindest heute mal ruhig. Man kann noch nicht mal die Kanonenschüsse von der nordöstlichen Grenze hören.« Sie kam mit langsamen B e wegungen durch das Zimmer und setzte sich mir gege n über. »Man sagt, dass sie die Schulen geschlossen h a ben. Aber du wärst so oder so nicht zurückgegangen, stimmt ’ s?«
Ich schüttelte den Kopf.
Lange Zeit sagte keiner etwas.
Schließlich stand sie auf und zwang sich zu einem L ä cheln. »Ich weiß, dass ich vorhin einen dieser seltsamen Anfälle hatte, aber jetzt geht es mir besser. Ich habe uns Abendessen gekocht.« Sie lief in die Küche, kam mit zwei Suppentellern zurück und stellte sie auf den Tisch. »Wie lange hat es heute Morgen gedauert, bis ich wieder ich selbst war? Sag mir die Wahrheit, Leo.«
Sie reichte mir die drei Wochen alte Zeitung, die i n zwischen mit meiner eigenen Schrift vollgekritzelt war. Es waren ganz alltägliche Botschaften: Frag Pater Du n stan später danach.
In einer halben Stunde
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