Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
mache ich das Essen. Es waren all die Worte, die ich nicht länger aussprechen konnte. Ich überprüfte sie, indem ich die Zeitung drehte und alle vier Ränder las.
»Leo, wie lange?«, beharrte sie.
Ich nahm den Bleistift und schrieb: Zwei Stunden.
»Zwei Stunden?« Ihr Lächeln war zu fröhlich. »Also weniger als gestern. Das ist ein gutes Zeichen.«
Es war nicht die Wahrheit. Ich reduzierte die Zahl j e den Tag.
»Zum Teil kann ich mich daran erinnern. Ich war nicht so weit weg, wie ich es sonst manchmal bin. Du hast das Baby gehalten, oder? Maria hat mit mir gesprochen, und du hast das Baby gehalten.«
Ich nickte. Das stimmte. Maria kann dich manchmal besser zurückholen als ich, schrieb ich.
»Ja.« Sie rührte die Suppe in ihrem Teller um. »Sie ist einer der nettesten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Ich wüsste nicht, was wir, besonders im Moment, ohne sie tun würden.« Ihre Stimme bebte, und sie beugte den Kopf über den Teller. Es war noch immer weniger als einen Monat her, seit Stirling gestorben war. Ich füh l te mich, als ob ich in diesen vergangenen vier Wochen hundert Jahre gelebt hätte. Und trotzdem konnte ich mich nicht daran gewöhnen.
»Wird Pater Dunstan später vorbeikommen?«, fragte Großmutter.
Ich schüttelte den Kopf. Er war schon am Morgen da gewesen, als sie behauptet hatte, mich nicht zu erkennen und uns wieder und wieder gebeten hatte, Harold zu h o len. Morgen. Er hat gesagt, dass er morgen kommt, falls es in der Stadt immer noch ruhig ist.
Sie nickte, dann seufzte sie. »Ich fühle mich plötzlich so müde. Ich glaube, ich werde nach dem Essen zu Bett gehen. Es macht dir doch nichts aus, Leo?« Ich schüttelte den Kopf und nahm einen Löffel von meiner Suppe – der übliche Gem üs eeintopf. Als ich sie schmeckte, hätte ich beinahe ausgespuckt. Großmutter hatte sie mit kaltem Wasser zubereitet.
Nachdem sie zu Bett gegangen war, nahm der Wind draußen an Stärke zu. Ich zündete die Lampe an, stellte sie auf den Tisch, setzte mich hin und dachte an nichts. Ich hörte irgendwelche Nachbarn im Treppenhaus, dann wurde es wieder ruhig, und die Dunkelheit brach herein. Gegen neun kam Maria an die Tür, um nachzusehen, ob bei uns alles in Ordnung war. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, ging sie mit dem Baby nach oben.
Ich weiß nicht, warum, aber ich setzte mich wieder an den Tisch und fing an, die letzten freien Ränder der Ze i tung vollzuschreiben. Ich schrieb Briefe an jeden, der mir einfiel – an meinen Vater, um ihm zu sagen, dass er uns nie hätte verlassen dürfen; an Ahira, um ihm zu erklären, warum ich diesen Schuss abgegeben hatte; und dann an Stirling. Stirling schrieb ich alle möglichen Dinge – wie sich der Wind draußen anhörte, wie das vernagelte Fen s ter aussah und wie das Gras auf seinem Grab wuchs, z u sammen mit diesen kleinen, weißen Blumen, von d e nen Großmutter sagte, dass sie hübsch wären und dort ble i ben sollten, auch wenn es nur Unkraut war. A n schließend hielt ich die Briefe an die Öllampe und ve r brannte sie einen nach dem anderen. Von der Lasur der Tischplatte stieg ein heißer, giftiger Geruch auf. Ich musste die Wohnung verlassen.
Ich zog meinen Mantel an und machte mich auf den Weg zum Friedhof. Ich sah weder nach rechts noch nach links. Erst als ich die Victoire-Brücke schon beinahe e r reicht hatte, erkannte ich, dass es sie gar nicht mehr gab. Vor den Durchgang zwischen den Häusern hatte man zwei überkreuzte Bretter genagelt, und dasselbe war mit dem Friedhofstor geschehen. Dazwischen gab es nun nichts mehr als den tief unter mir dahinströmenden Fluss. Die Victoire-Brücke war zerstört worden.
Nachdem ich den Friedhof über die Nördliche Brücke erreicht hatte, setzte ich mich an Stirlings Grab und b e trachtete die Inschrift auf dem Holzkreuz. Das Gras auf dem Grab wuchs immer höher, und das Holz zeigte die ersten Spuren von Schimmel und Flechten. Ich saß da und dachte an Stirling. Ich hatte seit fast vier Wochen weder seine Stimme gehört noch sein Gesicht gesehen. Noch nie waren wir so lange getrennt gewesen. Als er ein Baby war, nahm meine Mutter ihn einmal für eine W o che mit in den Süden, um ihre Familie zu besuchen; ein anderes Mal – ich war im sechsten Schuljahr – ist mein Zug zu einem dreitägigen Marsch in den Westen des Landes auf gebrochen. Abgesehen davon waren wir seit seiner Geburt jeden Tag zusammen.
Am Tag nach Stirlings Tod, und am nächsten und am übernächsten hatte ich
Weitere Kostenlose Bücher