Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
der Grenze sterben würde und es allein meine Schuld wäre. Als Anselms Vater herausfand, dass ich schwanger war, hat er mich gebeten, ihn zu heiraten, aber ich konnte nicht. Ich hasste ihn. Ich hasste ihn, seit er diese Tür a b gesperrt hatte. Und gleichzeitig hatte ich Angst vor ihm. Ich sagte, dass ich ihn heiraten würde, aber dann wurde ich so krank vor Kummer, dass mein Vater es nicht z u ließ. Meine Mutter fand, dass ich es tun sollte, aber mein Vater schwor, dass ich diesen Mann nur über seine Le i che heiraten würde. Anselms Vater wurde sehr wütend, und dann hat er mit Lucien gesprochen, und Lucien sorgte da für, dass mein Vater seine Bank verlor und Soldat we r den musste. Ich habe nicht gewagt, es jemandem zu e r zählen, aus Angst, dass er meinen Vater umbringen la s sen würde. Deshalb weiß niemand, wer Anselms Vater ist, abgesehen von mir und meinen Eltern. Und ich kann es nicht ertragen, dass mein eigenes Baby zur Hälfte von einem Mann abstammt, den ich hasse.«
Sie schluchzte noch immer. »Ich dachte, ich würde darüber hinwegkommen, aber dann ist mein Vater von der Grenze z ur ückgekehrt, und ich hörte, dass Anselms Vater tot ist, und jetzt bin ich so durcheinander, dass ich nicht weiß, was ich denken soll. Es hat alles wieder z u rückgebracht. Ich bin fast verrückt geworden, weil ich mit niemandem darüber sprechen konnte. Ich habe fast das Gefühl, als ob ich ihn geliebt hätte, und fühle mich schuldig, weil ich ihn nicht geheiratet habe, aber ich weiß nicht, warum. Ich habe ihn gehasst.«
Dann erinnerte ich mich plötzlich an etwas, und ich zitterte stärker als je zuvor. Ich nahm die Zeitung und kritzelte verzweifelt: Wer war Anselms Vater?
»Oh, Leo – ich kann es dir nicht verraten. Ich kann es niemandem verraten. Ich kann einfach nicht.«
Sie sah mich mit flehenden Augen an, und ich wusste, dass sie es tun würde. Und plötzlich schrieb ich: Nein.
Ich zitterte schrecklich, und sie zitterte ebenfalls, und sie legte die Arme um mich, und wir weinten beide. Wie zwei verlorene Kinder, die niemanden hatten, um sie zu trösten.
»Ich weiß, dass du mich verabscheuen musst, Leo«, schluchzte sie. »Ich kann es nicht ertragen, dass Anselm der Sohn dieses Mannes ist. Ich dachte, dass ich froh sein würde über seinen Tod, aber ich fühle mich einfach nur schuldig. Er wurde …« Sie drückte ihr Gesicht an meine Schulter. »Er wurde gleich am Anfang getötet, in der er s ten Nacht, als die Rebellen in den Straßen gegen die So l daten gekämpft haben. Viele Mitglieder der Regi e rung wurden in dieser ersten Nacht getötet.«
Ich umklammerte ihren Arm fester. Sie entzog sich mir und nahm Anselm hoch. Ihre Tränen fielen wie Di a manten auf das Gesicht des Babys.
»Leo, hör zu«, bat sie. »Ich habe vorhin die Zeitung gelesen. Alles verändert sich wieder.« Sie schluchzte noch immer, während sie sprach. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Aber es ist wahr – der Prinz kommt zurück. Lucien ist tot. Man spricht von einer Revolut i on.«
Viel später, als sie ihr Weinen so weit unter Kontrolle hatte, dass sie wieder normal sprechen konnte, und mein Zittern abgeklungen war, berichtete sie mir so gut sie konnte, was in der Zeitung stand. Ich konnte es nicht glauben. Dann führte sie mich zum Fenster, öffnete es weit und deutete auf die Burg.
»Erkennst du diese Flaggen nicht?«, fragte sie. »Sie sind orange, so wie in den ersten fünf Jahren unseres L e bens. Erinnerst du dich nicht?«
Ich hatte den größten Teil meiner Kindheit aus meiner Erinnerung gelöscht, nachdem meine Eltern fortgegangen waren. Aber als ich da am Fenster stand und mich hi n auslehnte, um einen Blick auf einen fernen Turm zu e r haschen, von dem im Mondlicht eine Flagge wehte – als ich da stand und nach oben sah, erinnerte ich mich wi e der.
Ich dachte in diesem Moment, dass ich es ihr sagen wü r de. Ich dachte, dass ich ihr von Ahira erzählen würde. Ich nahm die Zeitung, die sie mir gegeben hatte, und zögerte. Und dann schrieb ich stattdessen: Ich möchte dir etwas erzählen. Eine Geschichte über etwas, das passiert ist, bevor Stirling starb.
Es war seltsam, wie gemessen und normal die Worte klangen, die ich schrieb, während mir gleichzeitig die Tränen übers Gesicht liefen und mein Herz sich anfühlte, als ob es gebrochen wäre. Ich versuchte, uns beide aus diesem trostlosen Zimmer an einen anderen Ort zu fü h ren. Ich betete, dass es funktionieren würde, dann erzäh l te
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