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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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Arm. Sie legte eine Zeitung auf den Tisch. »Ich wollte dir das hier zeigen. Ich konnte nicht schlafen.«
    Es war unsere alte Zeitung mit einer anderen Übe r schrift. Ich starrte sie an, ohne sie zu sehen.
    »Hier«, sagte sie. »Sie sind alle tot.« Sie deutete auf eine Liste. Es waren Luciens wichtigste Männer – seine militärische Führungsriege. »Es macht mich traurig, mir das vorzustellen. Warum, weiß ich nicht.«
    Ahiras Name war darunter. Er sprang mir sofort ins Auge, so als ob ich ihn persönlich gekannt hätte. Hier stand es nun in gedruckten Buchstaben, und ich war d a für verantwortlich. Ich hatte seinen Namen auf diese L i ste der Toten gesetzt, als ich den Abzug drückte.
    Mir wurde schlecht, und ich begann zu zittern. Ich schob die Zeitung von mir weg und stützte mich am Tisch ab. Plötzlich glaubte ich, den Boden unter den F ü ßen zu verlieren – dass ich durch die Welt stürzen und verschwinden würde. Ich kniete mich hin und weinte hemmungslos vor Angst.
    »Leo«, sagte Maria. »Oh, Leo. Es ist nicht gerecht, dass dir so etwas passieren musste. Das Einzige, was du wol l test, war, dich um Stirling zu kümmern. Und jetzt …« Sie brach ab, griff nach meiner Hand und hielt sie fest.
    Aber vielleicht hatte ich es verdient. Vielleicht ve r diente ich alles, was mir passierte. Das ist es, was ich damals empfand. Ich verdiente das alles, weil ich ein Mörder war. Ich wünschte mir verzweifelt, dass jemand mich bestrafen würde. Ich wünschte mir, dass jemand Rache nehmen würde. Ich wollte mich freiwillig stellen und zum Tode verurteilt werden.
    Ich war derjenige, der zuerst Rache genommen hatte, aber ich war zu zornig gewesen und dabei zu weit gega n gen. Ich hätte alles gegeben, um es ungeschehen zu m a chen – um wieder auf der schlammigen Straße zu stehen, gelähmt vor Hass auf jeden einzelnen Soldaten im Land, und noch einmal vor die Wahl gestellt zu sein. Ich schloss die Augen und betete darum, zurückkehren zu können, aber ich wusste, dass es hoffnungslos war.
    »Komm, steh auf, Leo«, bat Maria. »Lass mich dir helfen.« Sie legte das Baby aufs Sofa, und es fing an zu schreien. Ich schaffte es aufzustehen, und ließ mich in Großmutters Schaukelstuhl fallen. Ich weinte nicht mehr, aber ich zitterte unkontrollierbar und presste das Gesicht gegen die Knie. Sie legte den Arm um meine Schultern und wartete, bis mein Zittern aufgehört hatte.
    Anselm schrie weiter. Sie holte sich einen Stuhl und setzte sich neben mich. Es erinnerte mich an den Son n tag, als sie zum Essen gekommen war und Stirling vorg e schlagen hatte, ein Picknick zu machen. Alles war jetzt so schrecklich und hoffnungslos.
    »Ich muss Anselm stillen«, sagte Maria über sein G e schrei hinweg. »Entschuldige, Leo – macht es dir was aus?« Ich schüttelte den Kopf. Während ich zusah, wie sie Anselm die Brust gab, wunderte ich mich, wie ich mir hatte einbilden können, sie zu lieben. Liebe hatte jetzt keine Bedeutung mehr für mich. Es war nur ein leeres Wort – aus allem war für immer die Magie verschwu n den.
    Anselm schlief ein, und sie legte ihn zurück aufs Sofa. »Bitte entschuldige, Leo«, flüsterte sie. »Jetzt können wir uns unterhalten.« Aber ich konnte nicht. Sie holte mir ein Stück Papier, doch meine Hände zitterten zu stark, um zu schreiben.
    »Ich werde nur über ganz alltägliche Dinge reden«, sagte sie.
    Ich nickte. Ich wollte nichts über alltägliche Dinge h ö ren, aber genauso wenig wollte ich, das sie mich hier a l lein ließ.
    Aber sie redete gar nicht über alltägliche Dinge. »A l les ist so verworren, Leo.« Sie fing an zu weinen, als ob ihr Herz brechen würde. Ich dachte, dass sie mein Leben meinte, aber sie schluchzte: »Manchmal fühle ich mich so verloren.« Sie umklammerte meine Hand. »Ich wünschte … Ich wünschte, ich hätte nicht die Hälfte der Dinge getan, die ich getan habe, aber es ist zu spät. Ich hatte früher so ein schönes Leben, und ich habe alles k a puttgemacht.«
    Ich griff nach der Zeitung und schrieb: Erzähl mir d a von. Meine Schrift war so krakelig wie die eines Kindes. Wir sind beide verloren, dachte ich. Wir haben versucht, uns gegenseitig zu führen, aber keiner wusste den richt i gen Weg.
    »Ich kann es dir nicht erzählen. Es tut mir leid, aber du willst das hier nicht hören.«
    Ich dachte an den Tag kurz nach ihrem Einzug zurück, als wir uns unten auf dem Hof unterhalten hatten. Ich wünschte mir jetzt, diese Zeit mit meiner Familie –

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