Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
die Stufen hinunterlief.
»Sergeant Markey«, entfuhr es mir.
»Ja. Kannst du dir vorstellen, dass er hier lebt?«
»Sicher, das kann ich mir nur zu gut vorstellen.«
»Er kommt auf uns zu«, sagte Stirling aus einem Mundwinkel.
Sergeant Markey kam uns mit forschen Schritten en t gegen, und sobald er uns zu erkennen schien, sagte Sti r ling höflich: » Guten Tag , Sir.« Wir beide nickten ihm zu.
Er antwortete mit einem Nicken, das so winzig war, dass wir es uns auch eingebildet haben könnten, bevor er sein Tempo vergrößerte und mit abgewandtem Gesicht an uns vorbeilief.
»Wie unhöflich!«, sagte Stirling mit gespielter Emp ö rung, kaum dass er außer Hörweite war. Und dann fragte er noch mal: »Kannst du dir vorstellen, dass er hier lebt?«
»Aus irgendeinem Grund habe ich immer angeno m men, dass er arm ist.«
»Ich auch. Die meisten Lehrer sind nicht reich.«
»Na ja, zumindest nicht so reich«, schränkte ich ein. »Das ist wahrscheinlich der Grund, warum er in der Schule so reizbar und gemein ist. Er kann es wahrschei n lich nicht ertragen, von seinem perfekten Haus mit seiner perfekten Aussicht in seiner perfekten Straße weg zu sein. Er kann es wahrscheinlich nicht ertragen, all die hässlichen Gassen und zerlumpten Kinder zu sehen, wenn er an das hier gewöhnt ist.«
»Du solltest nicht neidisch sein, Leo.«
»Ich bin nicht neidisch. Ich sage nur, dass es eine Menge erklärt.«
Die Straße fiel nun sanft nach unten ab. Bald darauf sahen wir, dass sie in eine Sackgasse mündete, deren E n de nach einem Haus ein Zaun bildete, hinter dem ein ste i ler Abgrund lag. Also bogen wir nach rechts ab.
Als wir in südlicher Richtung weitergingen, kamen wir zu einer Straße, die ich kannte. Ohne es zu bemerken, hatten wir die reiche Wohngegend verlassen und waren nun wieder von den vertrauten, tristen Häusern umgeben. Wir mussten langsam gehen – die Straße war so abschü s sig, dass wir uns sonst die Gelenke gestaucht hätten. An der Schule, auf die ich als kleiner Junge ging – bevor die Militärschulen eröffnet wurden –, hatt e m an uns beig e bracht, dass die Straßen hier deshalb so steil abfielen, weil dies die Stelle war, wo Tausende von Jahren zuvor das Vulkangestein eingestürzt war. Ich gab die Inform a tion an Stirling weiter.
Am unteren Ende der Straße stand das riesige Gebä u de der Zenithar-Rüstungsfabrik. Ich glaube, früher war es mal ein Krankenhaus. Davor befand sich ein dreieckiger Lehmplatz, auf dem viele schwere Karren tiefe Furchen hinterlassen hatten.
»Jetzt nach links«, sagte ich.
Metallische Geräusche drangen aus der Fabrik, als wir vorbeigingen. Nicht lange nachdem sie hinter uns ersto r ben waren, erreichten wir die Brücke.
Es gab fünf Brücken aus Kalitzstad hinaus. Lucien hatte nach seinem Staatsstreich vier von ihnen umb e nannt: die Nördliche, die Südliche, die Nordwestliche und die Südwestliche Brücke. Die, zu der wir jetzt k a men, hieß noch immer die Victoire-Brü cke , benannt nach dem Mann, der sie entworfen hatte; es war der ei n zige Name gewesen, der keinen Bezug zur königlichen Fam i lie hatte. Sie war die Brücke, über die Luciens Truppen gekommen waren, als sie die Macht an sich gerissen ha t ten.
Die Brücke existierte schon seit mehr als zweihundert Jahren, aber trotzdem überlegte ich, ob sie wohl sicher war, als wir sie überquerten. Es war so viel leere Luft zwischen der Brücke und dem Wasser. Früher sagte man, dass die Stadt auf reiner Willenskraft erbaut worden sei; wegen der langen Tradition der magischen Lehre hier und wegen der Brücke, die der Schwerkraft trotzte, und wegen der Burg auf ihrem Felsen und wegen des Hafens, den man in die Westseite der Insel gegraben hatte – eine riesige Kaverne unter dem Stadtrand.
Wir betraten den Friedhof durch den steinernen To r bogen am Ende der Brücke und standen sofort zwischen den Gräbern. Die meisten, die am Rand lagen, waren neu – teilweise noch immer zu hoch aufgeschüttet – und nur mit kleinen Holzkre uz en gekennzeichnet. Ein kleines Stück links von uns war ein leeres, frisch ausgehobenes Grab. Stirling sah es flüchtig an, als wir daran vorbeigi n gen.
Die Grabstellen waren auf traditionelle Weise in Ri n gen angeordnet. In der Mitte des innersten Rings, der weit von der Stelle entfernt war, vor der wir jetzt standen, befand sich ein großes Monument – ein Steinkreuz mit einer Christus-Figur daran –, das von Bäumen umsäumt wurde. Gleich daneben lagen die
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