Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
offene Grab. Sobald wir konnten, schlüpften wir an ihnen vorbei in Richtung Brücke. Gleichzeitig trennte sich der Mann von der Gruppe und wankte zurück zum Ausgang. Er lehnte sich gegen das Tor, als könnte er nicht ohne Hilfe stehen, schlug die Hände vors Gesicht und begann, laut zu schluchzen. Stirling sah mich an, und wir drängten uns an ihm vorbei. Er sah nicht mal auf.
Wir gingen schweigend zurück. Das Kind musste an irgendeiner ansteckenden Krankheit gestorben sein – das war der Grund für die Beerdigung so spät am Tag. Es war üblich, die Menschen am Morgen zu bestatten, damit sie mit der Sonne zum Himmel aufsteigen würden. Aber wenn jemand an einer ansteckenden Krankheit gestorben war, verlangte es das Gesetz, dass er zwischen fünf Uhr nachmittags und der Morgendämmerung begraben wu r de. Manche Menschen dachten, dass kurz vor der Dä m merung näher am Sonnenaufgang läge, und bestatten ihre Toten daher in den Stunden, bevor es hell wurde. Andere wiederum glaubten dasselbe vom letzten Licht des Nachmittags. Aber in Wahrheit war keins von beidem der Sonnenaufgang.
Ich hatte halb damit gerechnet, dass Großmutter sauer sein würde, weil wir so spät heimkamen, aber das war sie nicht. W i r sagten ihr, dass wir einen Spaziergang g e macht hätten, und sie fragte nicht weiter nach.
»Ich bin froh, dass ihr nicht wieder nachsitzen mus s tet«, war alles, was sie sagte. Dann gingen sie und Sti r ling zur Kirche.
Ich konnte mich mit nichts beschäftigen. Ich lief in der Wohnung auf und ab und dachte dabei an Aldebarans Grab und ob es tatsächlich eine Attrappe sein könnte, so wie Stirling behauptet hatte. Es hatte genauso ausgesehen wie all die anderen. Schon die Tatsache, dass da ein Grabstein war, hatte mich immer glauben lassen, dass er ganz sicher tot war. Aber jetzt war ich nicht mehr übe r zeugt.
Ich fing an, nach dem schwarzen Buch zu suchen. Es war Tage her, seit der letzte Eintrag aufgetaucht war, und ich wollte es wieder mal überprüfen. Ich dachte, dass ich es in die Truhe unter der Fensterbank zurückgelegt hätte, aber da war es nicht.
Ich durchsuchte das ganze Zimmer und fand es schließlich unter meiner Matratze. Dabei wusste ich, dass ich es da nicht hingelegt hatte. Als ich es öffnete, en t deckte ich einen neuen Eintrag.
Das Buch beunruhigte mich jetzt weniger als am A n fang, trotzdem zögerte ich. Doch was konnte es schon schaden, einfach nur den nächsten Abschnitt zu lesen? Ich blätterte die leeren Seiten bis zu dem neuen Eintrag um und begann mit der Lektüre, bevor ich meine Me i nung ändern konnte.
»Field«, sagte Raymond und sah von seiner Zeitung hoch. Das Lesen fiel ihm zunehmend schwer, aber z u mindest konnte er den Großteil der Schlagzeilen entzi f fern. »Field, Sie wissen doch, dass ein Butler nicht für die Gartenarbeit zuständig ist.«
»Verzeihung, Sir.« Der Butler wischte sich das R a senmä heröl von den Händen. »Aber das Gras musste g e schnitten werden.«
»Wie oft muss ich Ihnen das noch sagen, Field? Sie müssen nicht so schwer arbeiten. Sie sind kein Sklave.«
»Das macht mir nichts aus, Sir. Schwere Arbeit ist gut für mich.«
Mehrere Jahre waren vergangen, doch der Butler war nicht gealtert. »Vielleicht stimmt das sogar«, erwiderte Raymond leise lachend.
»Nun ja, ich bin seit Langem daran gewöhnt.«
»Ich nehme an, die Armee hat Ihnen harte, körperliche Arbeit abverlangt?«
»Die Armee?« Einen Moment wirkte der Butler ve r wirrt. »Ja, selbstverständlich.«
»Ich hätte das nicht geschafft. Ich war nie sehr gesund. Sehen Sie mich jetzt an – ich bin gerade mal siebzig und stehe schon an der Schwelle des Todes.«
»Das würde ich nicht sagen, Sir. So einen Herzinfarkt mus s m an erst mal verkraften, aber ich würde auf keinen Fall sagen, dass Sie an der Schwelle des Todes stehen, wie Sie es ausdrücken.« Der Butler kniete sich hin und zündete das Feuer an. Die Schwerter in ihren Vitrinen schimmerten im Licht der hereinbrechenden Aben d dämmerung.
»Field, würden Sie mir bitte das Kuvert aus der ober s ten Schublade meines Schreibtischs geben?«, sagte Ra y mond nun. »Das braune.«
Der Butler holte den Umschlag und gab ihn ihm.
»Ich habe meine Anwälte gebeten, heute Abend vo r beizukommen«, erklärte Raymond, während er mehrere Papiere herausnahm. »Ich muss ein paar Dinge regeln.« In diesem Moment klingelte es an der Tür. »Führen Sie sie bitte herein, Field. Sie können dann gehen. Ich werde Sie rufen,
Weitere Kostenlose Bücher