Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
still. Falls Talitha ihn hören konnte, hatte sie sich entschieden, ihm nicht zu antworten.
In diesem Moment begriff ich, wer dieser Mann war – der Butler Arthur Field. Ich hatte das Gefühl, als ob ich wüsste, was als Nächstes geschehen würde, so als hätte ich es vor langer Zeit selbst miterlebt und noch nicht ganz vergessen. Ich starrte die Seite an. Die Schrift war im Verlauf der Geschichte immer schräger und unrege l mäßiger geworden und hatte tiefe Kratzer auf dem alten Papier hinterlassen. Und dies war das Ende.
Ich war den ganzen Abend über mit den Gedanken woanders, weil ich nicht aufhören konnte, über das Buch nachzudenken. Als ich in dieser Nacht im Bett lag und zwischen den Vorhängen hindurch die Sterne anstarrte, war ich immer noch verwirrt. Falls der Butler tatsächlich Aldebaran war, was ich langsam zu glauben begann, und falls seine Geschichte wahr sein sollte, dann hatte er kurz vor der Befreiung vor zehn Jahren in England gelebt. Aber falls er zu dieser Zeit am Leben war, warum hätte er dann an Talitha schreiben sollen? Könnte sie ihm wie so vielen anderen vorgetäuscht haben, auf der Seite des Königs zu stehen? Ich war mir nicht sicher. Doch wenn irgendwer den großen Aldebaran getäuscht haben könnte, dann sie.
Da ließ mich ein anderer Gedanke in der Dunkelheit hochfahren. Wenn diese Magiegelehrten über ein Buch kommunizieren konnten, diente das andere Buch, das, das ich gefunden hatte, vielleicht demselben Zweck. Und falls es so war, machte es das gefährlich? Vielleicht hätte ich es niemals aufheben sollen. Wie sollte ich wissen, ob es nicht jemand Großem und Mächtigem gehörte, jema n dem, der mich in diesem Moment dabei beobachtete, wie ich die Seiten umblätterte?
Als die Uhr in der Stadt zwei schlug, schlief ich immer noch nicht. Während ich so dalag, überlegte ich beunr u higt, wessen Briefwechsel ich da abfing. Ob die Betre f fenden wussten, dass ich mitlas?
D ie Lampe flackert und geht einige Augenblicke sp ä ter ganz aus. Ich sitze für eine Weile in der Du n kelheit, bevor ich den Balkon überquere und den Blick über die Stadt schweifen lasse. Ich kann noch i m mer die Musik aus den Räumen der Burg zu mir hochdringen h ö ren; sie ist jetzt lauter und wilder, denn es ist schon spät. Weit hinter den Dächern unter mir schlägt die Kirc h turmuhr zwölf. Ich habe sie damals auch schl a gen hören – immer wenn ich nachts dasaß und in dem Buch las.
Ich weiß noch, wie sehr mich das Buch beunruhigt hat. Ich dachte immer, dass etwas entweder nur schlecht oder nur gut sein kann. Niemals beides. Ich lag nächtelang wach und zerbrach mir den Kopf, was davon wohl auf das Buch zutraf. Aber es gibt nichts, das ausschließlich böse oder gut ist. Es gibt gute Teilchen und schlechte Teilchen, und sie sind miteinander vermischt. Manchmal kleben sie in Klumpen zusammen, und manchmal ze r streuen sie sich über ein Gebiet oder ein Zeitalter oder ein Leben. Die bösen Teilchen haben mehr Energie. Mehr Kraft. So wie bei einer toten Fliege, die einen Fl a kon voll Parfüm ruiniert.
Du benutzt die Wissenschaft, um alles zu erklären. Das ärgert mich manchmal, aber ich denke, dass du auf gewisse Weise Recht hast. Zumindest gilt das für mein eigenes Leben. Dieses Buch war mein Geständnis an dich – deshalb habe ich es angefangen. Meine Sünden waren groß, das sollte ich dir jetzt sagen – oder zumi n dest hatten sie große Kraft.
Ich höre die hohen Absätze einer Frau auf der Treppe. Sie sagt etwas mit einer sanften, wohl artikulierten Sti m me, die Marias ähnelt, und ein Mann antwortet. Nach einer Weile verhallen ihre Schritte. Ich gehe an der Ba l konbrüstung entlang und betrachte die Lichter der Stadt. Mit einem Mal taucht der Mond hinter den Wolken auf.
Dieses Licht genügt mir, um auch ohne Lampe zu s e hen. Ich werde weiterlesen, jetzt, da ich begonnen habe. Ich werde zu Ende lesen, was ich geschrieben habe.
A m Donnerstagmorgen wachte ich spät auf. Es war Stirlings Husten, das mich schließlich aus dem Schlaf schrecken ließ.
»Beeil dich, Leo, sonst kommen wir zu spät!«, rief er, als er meine offenen Augen bemerkte.
Ich setzte mich auf. Er stand bereits fertig angezogen neben meinem Bett und schlüpfte gerade in seine Stiefel. »Es ist schon nach halb acht.«
»Warum hast du mich nicht geweckt?«, fragte ich.
»Ich dachte, dass du bestimmt müde sein musst, nac h dem du gestern so weit gelaufen bist.«
»Ich bin nicht müde«,
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