Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
für einen M o ment, aber ich stieß die Tür auf, und sie folgte mir hinein.
Pater Dunstan kniete neben dem Bett und hielt Sti r lings Hand. Großmutter presste schluchzend ihren Kopf gegen seine Schulter. Der Einzige, der uns bemerkte, war Stirling. Wir standen schweigend da, während Pater Dunstan sich bemühte, meine weinende Großmutter zu trösten. Ich versuchte, die Aufmerksamkeit des Priesters auf mich zu lenken, um ihn mit einem Blick zu fragen, was passiert war, aber es gelang mir nicht, sodass ich schließlich herausplatzte: »Was ist los?«
Niemand antwortete.
Schließlich murmelte Stirling: »Das Stille Fieber.«
Großmutters Weinen wurde lauter. Wir wussten es b e reits, aber erst diese Bestätigung von Stirling selbst machte es so endgültig.
Ich lief an seine Seite, aber er wirkte nicht beunruhigt, und es schien ihm auch gar nicht bewusst zu sein, was gerade passierte. Großmutters Schluchzen wurde unb e herrschter. Selbst Pater Dunstan, der jede Woche Me n schen sah, die so krank waren, hatte Tränen in den A u gen. Warum weinte ich nicht? Das Einzige, was ich em p fand, war selbstsüchtige Enttäuschung darüber, dass g e rade als ich dachte, alles sei perfekt, das hier passieren musste.
Ich sah Maria an, die neben mir kniete, und zwischen ihren Wimpern schlüpfte eine Träne hindurch und land e te auf ihrer Wange. Ohne nachzudenken, streckte ich die Hand aus, um sie wegzuwischen. Ich ließ meine Finger dort, gegen die Seite ihres Gesichts gedrückt. Im näch s ten Moment war ich plötzlich auf mich selbst wütend. Stirling war krank – schwer krank –, und alles, was mir einfiel, war schamlos zu flirten. Ich ließ meine Hand si n ken, kratzte Maria dabei versehentlich mit dem Finge r nagel an der Wange, stand auf und verließ das Zimmer. Niemand hielt mich auf.
Ich begegnete Maria am nächsten Tag unten im Hof. Sie war plötzlich da, mit dem halb eingeschlafenen Anselm auf dem Arm , als ich aus dem Waschraum trat. »Geht es dir gut?«, fragte sie.
»Mir? Ja.« Ich war noch immer dabei, mein Hemd a n zuziehen. Es war früh, und ich hatte nicht damit gerec h net, dass ich jemandem begegnen würde.
»Du siehst müde aus. Du siehst aus, als hättest du nicht geschlafen.« Das Baby quengelte vor sich hin, und sie wiegte es geistesabwesend. »Wie geht es Stirling?«
»Gar nicht so schlecht. Auf jeden Fall besser als ge s tern.«
»Gut.« Ich trat vom Waschraum weg, um sie reinz u lassen. »Gehst du heute Morgen zur Kirche?« Ich nickte. »Dann sehen wir uns da. Sag Stirling ganz liebe Grüße von mir.«
Ich war schon fast an der Haustür, als sie mir nachrief: »Leo?« Ich drehte mich um. »Ich hatte schon mal das Stille Fieber. Ich hatte es und wurde ziemlich schnell wieder gesund. Bei Stirling wird es bestimmt genauso sein.«
»Ist das dein Ernst? Sagst du die Wahrheit?«
»Ja. Natürlich.«
Als ich schon halb die Treppe hinauf war, fiel mir plötzlich etwas ein, und ich lief noch mal nach unten. »Maria!« Sie stand noch immer an der Tür zum Wasc h raum und versuchte, Anselm zu beruhigen, der gerade zu quengeln anfing. »Wie bist du wieder gesund gewo r den?«
Sie zögerte und wiegte weiter das Baby in ihren A r men. »Ich … wurde einfach gesund.«
»Einfach so? Ohne Medizin?«
Sie wickelte die kleine Decke sorgfältig um das Baby. »Ich bekam ein bisschen Medizin. Aber nicht viel.«
»Was für eine? Sag mir den Namen.«
Sie antwortete lange nicht, dann sagte sie schließlich: »Die Blutblume.«
Ich stand ganz still und starrte sie an. Ich wusste von der Blutblume. Es war das einzige zuverlässige Heilmi t tel gegen das Stille Fieber. Ich wusste von ihr, und ich wus s te, was sie kostete. »Woher hast du sie beko m men?«, fragte ich schließlich.
»Früher haben die Menschen sie in den Bergen gefu n den. Sie war damals viel verbreiteter als heute. Ich hatte das Stille Fieber vor etwa acht Jahren. Sie ist seitdem viel seltener geworden.«
»Aber sie finden sie noch immer«, sagte ich nachden k lich. »Man liest das manchmal in der Zeitung.«
»Man kann auch ohne sie gesund werden. Das ist es, was ich dir sagen wollte. Der Arzt meines Vaters hat sie mir als Vorsichtsmaßnahme gegeben, obwohl es mir b e reits besser ging. Ich glaube, Stirling wird sich genauso erholen.«
»Aber wenn wir die Blutblume hätten …« , setzte ich an – und verstummte.
Ich ging allein zur Kirche. Großmutter wollte Stirling nicht allein lassen. Er war der Einzige von uns, der letzte Nacht
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