Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
ein bisschen mehr davon.«
Ich erzählte ihm von dem Tal, und dass ihn die Bl u men dort überragten und überall schillernde Schmette r linge herumflogen; davon, wie grün das Gras war und wie blau der Himmel. Vielleicht übertrieb ich ein wenig.
»Ich kann es mir wirklich vorstellen«, sagte Stirling, als ich mit meiner Beschreibung fertig war. Doch plöt z lich fügte er hinzu: »Ich habe dich vermisst, Leo. Geh nicht noch mal allein in diese Berge.«
»Aber was, wenn ich dort das Heilkraut finde?«
»Ich glaube nicht, dass du es finden wirst. Aber ich bin mir sowieso fast sicher, dass ich auch ohne wieder gesund werde. Vielleicht habe ich die Krankheit ja nur schwach. Ich fühle mich nämlich heute gar nicht so schlecht.«
»Das wäre möglich.«
»Ich bin mir fast sicher. Pater Dunstan meint, dass man sowieso schwer sagen kann, ob es überhaupt das Stille Fieber ist.«
Später an diesem Abend konnte Stirling plötzlich nicht mehr sehen …
Er schrie nicht auf und weinte auch nicht, sondern sagte beinahe gelassen: »Ich kann nichts sehen«, und wir k a men zu ihm. Aber ein paar Stunden später, als es zie m lich leise im Zimmer geworden war, rief er plötzlich ängstlich: »Großmutter?«
»Ich bin hier.« Sie war nicht von seiner Seite gew i chen.
»Leo?«
»Ich bin auch da.«
Er streckte uns die Hände entgegen. »Ich konnte euch nicht hören. Ich dachte, ihr hättet mich allein gelassen.«
»Nein«, sagte Großmutter, als jeder von uns eine se i ner Hände nahm. »Wir werden dich nicht allein lassen.« Ich hielt seine rechte, die bandagierte, und konnte nun spüren, welche Hitze von dem immer noch unverheilten Fleisch seiner Handfläche ausging.
Seine Hand hielt die meine fest umklammert, als ob diese Verbindung das Einzige wäre, das ihn mit dieser Erde verankern würde. Seine Finger waren heiß und tr o cken, und ich spürte den schnellen Puls in seinem Han d gelenk an meinem. Sie waren so fest aneinandergepresst, dass es schien, als würden unsere Venen wie eine einzige pochen und als wäre es mein Herzschlag, der ihn am L e ben hielt.
Später, als er endlich in einen unruhigen Schlaf dä m merte, fragte Großmutter: »Warum ruhst du dich nicht ein wenig aus, Leo? Es ist schon weit nach Mitternacht, und du musst morgen wegen der Schule früh aufstehen.«
»Ich werde bestimmt nicht schlafen.«
»Das musst du aber, Leo. Diese Krankheit kann sich über Monate hinziehen. Du wirst irgendwann schlafen müssen.«
»Du brauchst den Schlaf dringender als ich«, wide r sprach ich immer noch. »Du hast schwerer gearbeitet. Leg dich ein paar Stunden hin; ich bleib hier bei Sti r ling.«
»Jetzt geh schon, Leo. Ich kann mich morgen tagsüber ausruhen.«
Meine schlaflose Vornacht fing an, Wirkung zu ze i gen; meine Augen waren trocken und brannten, und ich hatte stechende Kopfschmerzen. Ich begann meine Hand aus Stirlings zu lösen, die noch immer fest um meine g e schlossen war. Doch plötzlich hatte ich Angst, dass er dann für immer davongleiten würde, so als würde die Verbindungsschnur, die ihn ans Leben knüpfte, damit durchtrennt, bis sein Herzschlag allmählich verstummte, und ich konnte es nicht tun. Es war idiotisch, aber manchmal stellte ich mir Dinge so lebhaft vor, dass ich unweigerlich an sie glaubte. Also blieb ich, wo ich war.
Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn ich b e gann zu träumen.
»Kommen Sie und unterhalten Sie sich mit mir, Field«, bat Raymond.
»Gern, Sir.« Der Butler durchquerte den Raum und blieb neben dem Stuhl des alten Mannes stehen.
»Setzen Sie sich zu mir.« Raymond deutete auf den Lehnstuhl ihm gegenüber, und Field nahm Platz. »Ich bin schrecklich müde, aber ich weiß nicht, warum. Ich werde alt. Bald werde ich tot sein.«
»Sie sollten das nicht ständig sagen, Sir. Das bringt Unglück.«
»Unglück?«, fragte Raymond. »Das habe ich noch nie gehört.«
»In meinem Land …« Der Butler brach ab und sah zur Seite. »In Australien, wo ich so viele Jahre gelebt habe, gibt es ein Sprichwort …« Als er den Blick wieder nach vorne wandte, sah er, dass der alte Mann ihn mit einem schwachen Lächeln musterte. »Was ist?«
»Ich werde Sie nie verstehen, Field. Sie sind ein rä t selhafter Mensch, nicht wahr?«
»Ich würde mich kaum als rätselhaft bezeichnen, Sir.«
»Sie haben Ihre Deckung für eine Minute fallen la s sen. Sie sind sonst immer auf der Hut. Ich glaube nicht, dass ich Sie auch nur ansatzweise kenne.«
»Vielleicht haben
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