Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
gesunde Mensche n verstand riet ihnen, das kostbarste Schmuckstück ausz u wählen, weil es niemals verloren gehen oder weggewo r fen würde. Und falls doch, würden das Silber und die Juwelen fortbestehen. Also übertrugen sie ihre Fähigke i ten auf die Kette und nahmen damit ihren Tod in Kauf.«
»Aber wären sie nicht so oder so gestorben?«, fragte Raymond.
»Nein. Durch eine unerwartete Wendung des Schic k sals gelang es den Belagerten schließlich, den Feind zu besiegen. Jedenfalls war der Silberadler anschließend für viele Jahre verschollen, auch wenn die allgemeine Me i nung dahin ging, dass er im Besitz irgendeines mächtigen Magiers sein musste. Deshalb war ich mehr als übe r rascht, ihn nun in meiner Hand zu entdecken. › Woher hast du das? ‹ , fragte ich.
Sie senkte die Stimme noch weiter. › Aus dem Schrank meines Vaters. Er sollte sie nicht haben. Nehmen Sie sie mit sich, wenn Sie fortgehen. ‹
› Ich kann sie nicht mitnehmen ‹ , erwiderte ich und war mir noch nicht einmal sicher, ob ich fortgehen würde.
› Sie müssen es tun. Und fliehen Sie, jetzt gleich! Es gibt Prophezeiungen, die Sie betreffen – sie besagen, dass Sie das Land aus schweren Zeiten retten werden. Wenn Sie jetzt nicht fliehen, was wird dann aus uns, wenn diese Zeit kommt und Sie tot sind? Und diese Kette ist gefäh r lich in so törichten Händen wie denen meines Vaters. ‹
Es verstieß gegen mein besseres Wissen, trotzdem nahm ich die Kette schließlich an. Dann holte ich aus irgendeinem Grund die Prophezeiung, die ich aufg e schrieben hatte, und gab sie ihr. › Sie wird nicht in Erfü l lung gehen ‹ , sagte ich. › Es war ein Fehler.‹
› Ich werde sie sicher verwahre n ‹ , antwortete sie, als wollte sie daran glauben.
Ich versuchte ihr zu erklären, was ich ihr damit sagen wollte – dass sie sich vor ihren Eltern und Luden in Acht nehmen solle. Ich versuchte, sie zu warnen, dass ihre E l tern ihre Hochzeit dazu missbrauchen könnten, ihre mutmaßliche Verschwörung gegen die königliche Fam i lie voranzutreiben. Aber ich konnte ihr diese Dinge nicht direkt sagen – es hätte sie zu sehr verletzt. Deshalb war ich mir, als ihre Mutter sie schließlich aufforderte aufz u brechen, nicht sicher, ob sie die Bedeutung meiner Worte verstanden hatte.
Eine Kutsche traf ein, um sie zum Hafen zu bringen, von wo aus sie auf das malonische Festland übersetzen würde. Dort sollte in der folgenden Woche ihre Hochzeit stattfinden; ich selbst packte meine Habseligkeiten z u sammen und floh, so schnell ich konnte.«
»Sie haben getan, um was sie gebeten hat?«, fragte Raymond.
»Ob es nun klug war oder unklug, ich tat es.« Der Bu t ler schüttelte den Kopf. »Sie hatte Recht gehabt – ich wurde tatsächlich beobachtet, und sie nahmen sofort die Verfo l gung auf. Sobald ich das Haus und seine seltsame Atm o sphäre erst einmal hinter mir gelassen hatte, konnte ich die Gefahr deutlich sehen. Was hätte ich tun können? Wäre ich geblieben, hätte ich nicht lange überlebt. Und als ich die Flucht ergriff, wurde ich verfolgt. Ich erreichte das Fes t land, doch sie fanden mich noch in derselben Nacht …«
Aldebaran streckte die Hand aus und knipste die Lampe an. »Aber darüber werde ich nicht reden.« Er starrte in die schwarze Nacht hinaus. »Sie wollen keine Geschichte über Folter hören, und außerdem liegt das alles weit in der Vergangenheit …« Er brach ab. »Ich nehme an, ich war mir meiner Sache zu sicher. Ich hatte immer g e glaubt, es mit allem aufnehmen zu können, bis es schließlich wirklich so weit war. Nie hätte ich mir vo r stellen können, dass es in den Rebellengruppen Me n schen gab, die über die gleichen Fähigkeiten verfügten wie ich selbst. Unter ihnen war jemand – eine Frau mit verhülltem Gesicht –, die weitaus größere Kräfte besaß als ich. Ich wagte nicht zu kämpfen. Ich trug diese Kette um meinen Hals und versuchte, mich still zu verhalten und auf eine Gelegenheit zur Flucht zu warten, während ich mich darauf konzentrierte, sie mit meiner Willen s kraft zu beschützen. Vielleicht war das dumm von mir.
Jedenfalls war ich am Ende schwach und halb b e wusstlos. Sie hatten mich geknebelt und meine Hände gefesselt. Wir marschierten durch die anbrechende Mo r gendämmerung, aber ich wusste nicht, wohin wir gingen. Wir waren in einem dichten Wald. Wir kämpften uns durch Büsche und Dickicht einen Hügel hinauf, dann hielten wir an, und die Frau mit dem verhüllten Gesicht
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