Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
wirklich! Sie sollten wissen, dass ich die Dame keinesfalls beleidigen wollte, wenn sie denn tatsächlich existieren würde. Oder irgend j emanden sonst. Aber es war nur eine Geschichte. Field?«
Aldebaran antwortete nicht. Er beobachtete das Mon d licht auf dem See, und plötzlich beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Etwas stieg in seinem Geist auf – er konnte nicht genau sagen, was es war, aber es machte ihm Angst. E t was in Malonia – irgendeine Veränderung knapp auße r halb seines Sichtfelds. Er fühlte diese Dinge, die wec h selnden Geschicke seiner Heimat, noch immer, und zwar auf dieselbe Weise, wie er seine alten Verletzungen bei feuchtem Wetter spüren konnte. Er starrte zu dem dun k len Fenster und versuchte zu sehen – doch er war unf ä hig, sich zu konzentrieren.
»Ich glaube, ich habe einen schweren Fehler bega n gen, Field«, sagte der alte Mann langsam.
»Einen Fehler?«, wiederholte der Butler, ohne sich umzudrehen.
»In Bezug auf meinen Letzten Willen. Ich glaube …« Raymond machte Anstalten, von seinem Stuhl aufzust e hen. »Holen Sie mir einen Füller und den Umschlag von meinem Schreibtisch. Schnell!« Da war plötzlich Panik in seiner Stimme. »Field!«
Er streckte die Hände aus, als wüsste er nicht, was ihm lieber wäre – dass Aldebaran wegging oder bei ihm blieb. Dann fiel er vornüber auf den Boden. Seine Brille ze r splitterte auf den Holzdielen unter seinem Gesicht.
Der Butler kniete sich neben ihn. Raymond lag ganz still.
Aldebaran drehte den Alten vorsichtig um. Dieser war schon zu weit weg, um noch etwas zu sagen, deshalb b e wahrte auch der Butler sein Schweigen. Er verharrte für einen Moment auf den Knien, dann stand er auf und ging zu dem Schreibtisch. Er nahm den braunen Umschlag aus der obersten Schublade und öffnete ihn. Darin war ein dünnes Bündel Papiere. »Dies ist der Letzte Wille und das Testament von Raymond Spencer-Grange …«
Aldebaran überflog die Zeilen hastig, suchte nach dem Schlüsselsatz. Er fand ihn schnell, denn das Dokument war kurz.
»Ich vermache Arthur Field meinen gesamten Besitz.«
Die Dunkelheit wurde undurchdringlicher. Der Butler stand reglos da und starrte das Testament an. Bilder z o gen ihm durch den Kopf, und er konnte sie nicht aufha l ten.
Der Prinz weinte, während neben ihm Männer von Verbannung und Revolution sprachen. Anneline und Cassius waren bereits tot.
Und Emilie, Harolds Emilie, war ganz in der Nähe. Gerade erst hatte sich ihr Auto auf der Rückfahrt vom Greysands Beach überschlagen. Der Silberadler hing am Hals des kleinen Mädchens, das in dem Krankenhau s zimmer weinte.
Und Talitha. Plötzlich verfluchte er sich selbst, weil er es nicht schon früher erkannt hatte. Was war die Kraft der Magie schon wert, wenn jemand, der so weit blicken konnte wie er, so blind war für die Wahrheit?
Jeder einzelne Plan war fehlgeschlagen, und Aldeb a ran wa r m achtlos, irgendetwas deswegen zu unterne h men. Er stand da und las den Letzten Willen des alten Mannes. Er starrte die Worte durch die Tränen in seinen Augen an und wartete darauf, dass sich das Chaos der Welten beruhigte.
Nachdem ich das Buch zugeklappt hatte, saßen wir lange schweigend da.
»Ist das das Ende?«, fragte Stirling schließlich.
»Ja, zumindest für den Moment.«
»Also das ist mit Aldebaran passiert. Er ging nach England, wie ich gedacht habe, und bekam dann das Haus des alten Mannes, als der starb?«
»Aber selbst wenn es wahr ist, es wäre schon lange her. Talitha hätte in der Zwischenzeit nach England g e hen und ihn töten können.«
»Ich glaube, dass er noch lebt.« Stirling runzelte die Stirn. »Und ich glaube, dass die Geschichte weiterging. Er ist sehr klug – er kann alle möglichen Dinge vollbri n gen. Er würde nicht zulassen, dass sich seine ganzen Pl ä ne einfach so zerschlagen.«
»Vielleicht nicht.«
»Das kleine Mädchen ist eine Verwandte von uns«, sagte Stirling plötzlich. »Dieses Mädchen, das die Hal s kette hat, ist eine Verwandte von Großonkel Harold und eine Verwandte von uns. Falls ihre Großmutter Harolds Frau war.«
»Du hast Recht! Aber trotzdem kann diese Geschichte nicht wahr sein. Irgendwer muss sich diese Dinge au s denken.«
»Ich glaube das nicht. Ich glaube, dass dieses Mä d chen jetzt gerade in England lebt. Genau wie Aldebaran. Und der Prinz.«
Ich schwieg einen Moment. »Stirling, was denkst du, was dieses Buch ist?«, fragte ich dann. »Du hast jetzt alles gehört, was
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