Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
wieder die Treppe hinunter.
Um ehrlich zu sein, habe ich mich fast schuldig g e fühlt. Er war ein solch leidenschaftlicher Königsgegner. Auch wenn seine Gefühle nicht gerechtfertigt waren – zumindest nicht wirklich –, tat er mir wegen der heißen Glut, mit der er sie empfand, trotzdem leid. Und ich hatte den Auftrag, mich hier unauffällig zu verhalten. Ich hatte meine Pflicht gegenüber dem Geheimdienst vernachlä s sigt, indem ich Anneline dieses Lied beibrachte, und ihr selbst gleichzeitig alle erdenklichen Schwierigkeiten se i tens ihrer Familie eingebracht. Von da an versuchte ich, die Kinder auf eine Weise zu unterrichten, die keine we i teren Probleme zur Folge haben würde.«
Raymond streckte den Arm aus, um die Lampe anz u knipsen, dann zog er ihn zurück. Er wollte die Stille des Zimmers nicht stören. »Wie lange sind Sie dort gebli e ben?«, fragte er.
Es dauerte eine Weile, bevor Aldebaran antwortete. »Die Tage verstrichen einfach«, sagte er schließlich. »Ich weiß nicht, wie. Noch bevor mir ein einziger bewusst geworden war, waren bereits drei Jahre vergangen. Ich hatte kaum jemals mit Talitha kommuniziert und geriet plötzlich in Panik, als ich realisierte, wie lange ich schon dort war. Ich versuchte, Kontakt zu ihr aufzunehmen.«
»Wie denn?«, fragte Raymond. »Über das Telefon? Hätte die Familie nicht jeden Ihrer Schritte beobachtet?«
»In Malonia gibt es keine Telefone.«
»Telefone gibt es überall!«
»Mein Land ist nicht wie England. Nein – ich benutzte meine Willenskraft. Ich schrieb in ein Buch und leitete die Worte, während ich sie schrieb, mittels meiner Wi l lenskraft in ein anderes Buch weiter – eines, das sich i n Talithas Besitz befand. Das war meine eigene Idee. Es war schwierig, aber es funktionierte. Ich dachte, dass e i ne Kontaktaufnahme über Magie der sicherste Weg wäre. Ich machte mir Sorgen, weil ich irgendwie schon so la n ge dort war und sogar mir selbst vorgemacht hatte, dass ich ein echter Lehrer sei. Ich hatte aufgehört, die Zeitu n gen zu lesen. Eine Revolution konnte unmittelbar bevorst e hen, ohne dass ich es auch nur erfahren hätte. Deshalb wollte ich keine Zeit mit Briefen verschwenden.«
»Warum haben Sie vergessen, Talitha zu kontakti e ren?«, fragte Raymond. »Weshalb waren Sie nicht auf der Hut? Ich dachte, Sie wären ein berühmter Spion g e wesen, Field.«
»Da war irgendetwas Seltsames an dem Haus. Eine Art betäubender Atmosphäre, die mich vergessen ließ, vorsichtig zu sein. Das alarmierte mich, sobald es mir bewusst wurde. Ich bin immer auf der Hut. Es muss M a gie gewesen sein. Das ist die einzige Möglichkeit, wie ich es mir heute erklären kann.« Aldebaran schüttelte den Kopf. »Ich hätte es merken müssen …« Er machte eine kurze Pause. »Talitha antwortete erst, als ich ihr in me i ner Verzweiflung vorschlug, dass ich in die Stadt ko m men würde. Sie schrieb kurz zurück, dass alles unter Kontrolle se i u nd ich mich unter keinen Umständen aus dem Haus entfernen dürfe. Also beobachtete ich die F a milie nun schärfer, während ich gleichzeitig wieder damit anfing, meine Fähigkeiten zu trainieren. Ich hatte beinahe verlernt, meine Willenskraft einzusetzen.
Das war der Zeitpunkt, zu dem in mir der Verdacht wuchs, dass ich beobachtet wurde, denn gleichgültig, wie angestrengt ich es auch versuchte, ich schien doch nie mehr sehen zu können als jeder gewöhnliche Mensch – irgendjemand blockte jeden meiner Versuche ab. Ich fragte mich, ob ich langsam meine Gabe verlor. So etwas hatte es schon gegeben. Manchmal wuchsen die Erleuc h teten aus ihren Fähigkeiten heraus. Und dann, eines Nachts, hatte ich plötzlich eine Vision.«
»Eine Vision? Wie meinen Sie das, eine Vision?«
»Ich träumte und schrieb dabei eine Prophezeiung auf. Dadurch wusste ich, dass ich meine Gabe nicht verloren hatte. Ich begann zu argwöhnen, dass die Rebellen stä r ker waren als ich gedacht hatte, und dass jemand wusste, wer ich war, und kontrollierte, was ich tat.«
»Was unternahmen Sie?«, fragte Raymond.
»Ich fuhr fort, Anneline zu unterrichten – es gab nichts, was ich sonst hätte tun können. Lucien wurde i n zwischen ausschließlich von seinem Vater unterrichtet, und ich konnte genug sehen, um zu erkennen, dass sie in ihren Köpfen irgendetwas Großes planten. Aber darüber hinaus wusste ich nichts. Anneline und ich waren in di e sen Jahren stärkere Verbündete als je zuvor. Sie wurde von ihrer Familie fast vollständig
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