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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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nicht gehen, aber ich fühle mich schlecht, wenn keiner von uns da ist. Aber … Na ja, ich schätze, ich kann dafür morgen gehen.«
    »Ich werde gehen!«, sagte ich. Ich hatte meine Stiefel schon angezogen. Während die beiden mir verblüfft nachsahen, schloss ich die Tür hinter mir. Ich rannte, o h ne mich auch nur im Geringsten um die Leute zu kü m mern, die sich umdrehten und mich anstarrten, als ich die Str a ße hinunterjagte.
    Es war schwül in der Stadt. Es herrschte eine drücke n de Stille, und über den Dächern hingen schwere, dunkle Wolken. In der Luft waren Stimmen; ganz egal, wie still es war, sie würden doch immer gerade so weit entfernt sein, dass man sie nicht verstehen konnte, und trotzdem hörte man sie als stetiges Summen in der Atmosphäre. Gewöhnlich ist diese Stimmung ein Vorzeichen für einen Wetterwechsel.
    Das Gewitter begann in dem Moment, als ich den Rand des Platzes erreichte, und sofort schüttete es wie aus Eimern. Der Regen fiel so hart und schnell, dass sich der leere Brunnen in der Mitte des Platzes fast auge n blicklich füllte, und das Wasser, das horizontal von der Unterlippe der Pferdestatue wegspritzte, erweckte den Eindruck, als ob der Brunnen wieder funktionierte. Ich rannte bis auf die Haut durc h nässt über den Platz auf die hell erleuchtete Kirchentür zu.
    »Leo!«, rief jemand hinter mir.
    Ich drehte mich um und sah, dass es Maria war. Sie hatte Anselm nicht dabei und rannte auf mich zu. Dabei raffte sie mit der einen Hand den Rock hoch, damit er nicht durch die Schlammbäche schleifte, mit der anderen hielt sie sich schützend ihre Jacke über den Kopf.
    »Maria!«, rief ich und drehte mich zu ihr um.
    »Du gehst an einem Wochentag in die Kirche?«, schrie sie mir durch den Regen entgegen. »Kann das wahr sein?«
    »Ja!«, verkündete ich, wie entfesselt durch den Sturm und die wahnsinnige Erleichterung darüber, dass Stirling gesund war. »Ja, ich gehe in die Kirche!«
    »Und was könnte der Grund dafür sein?« Sie lachte über meine wilden Augen. »Was ist mit dir passiert, Leo?«
    »Stirling ist gesund. Es war gar nicht das Stille Fieber. Er kann wieder sehen!«
    Ein Blitz zerteilte den Himmel und ließ den Brunnen auflodern. Im nächsten Moment war sie neben mir. In ihren Wimpern und auf ihren Wangen glitzerte Wasser, und ein Tropfen fiel von ihrer vollen Unterlippe. Aus einem plötzlichen Impuls heraus zog ich sie an mich und küsste sie. Einfach so.
    »Leo!«, protestierte sie atemlos und schob mich weg. »Wir stehen vor der Kirche. Was werden die Leute de n ken?« Sie lachte, aber es klang unsicher.
    »Ich weiß nicht. Spielt es eine Rolle, was sie denken?«
    »Sie werden annehmen, dass du Anselms Vater bist, das ist es, was sie denken werden.«
    »Oh.« Ich trat einen Schritt zurück. »Gutes Argument. Bitte entschuldige.«
    »Und wenn du jemanden küssen willst, solltest du ihn vorher fragen.« Sie lächelte nun wieder.
    »Es tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen.«
    »Um deinetwillen sollte es das besser nicht, Leo.«
    »Nein. Nächstes Mal werde ich zuerst fragen.« Ich sah sie lachend an. »Darf ich dich küssen, Maria?«
    Sie gab mir einen leichten Klaps. »Mach, dass du in die Kirche kommst, Leo, und bereue deine Sünden!«
    Wir stolperten durch die Tür und konnten nur mit M ü he aufhören zu lachen. Trotz des sintflutartigen Regens draußen war die Kirche fast voll.
    »Ich habe dich noch nie so glücklich gesehen«, flüste r te sie, als wir uns in die hinterste Bank setzten. Obwohl sie ebenfalls lächelte, sah ich plötzlich, dass in ihren A u gen Tränen schimmerten. Sie wischte sich das Gesicht mit ihrem Ärmel trocken. »Ich kann kaum glauben, dass Sti r ling geheilt ist. Als ich gestern an seinem Bett saß, kon n te ich sehen, dass es ihm viel besser ging, aber ich dac h te, dass man nicht wirklich darauf hoffen kann …«
    Ich nahm ihre Hand und hielt sie fest. Sie ließ es zu. Aber die Leute sahen uns nun an, und ich rutschte über die Bank auf eine angemessene Distanz. »Maria?«
    »Was denn?« Doch in diesem Moment läutete die Glocke im vorderen Teil der Kirche, und alle standen auf.
    An diesem Tag war der Gottesdienst nicht langweilig und bedeutungslos. An diesem Tag sprach er mir aus der Seele.
    Ich ging zusammen mit Maria nach Hause. Der Regen hatte aufgehört, und zurückgeblieben waren eine trö p felnde Stille und eine ruhige Abendsonne. Ein Regenb o gen krümmte sich über den Bergen im Osten, wo es jetzt erst regnete und

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