Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
machte, hatte ich das Gefühl zu fallen. Schließlich ging ich wieder hoch, betrat leise die Wo h nung und setzte mich an den Tisch, um Stirlings Schreien zu lauschen.
Solange er schrie, wusste ich, dass er lebte. Er hörte bis abends um sechs nicht auf.
»Leo, ich muss mit dir reden«, sagte Großmutter am nächsten Abend. Ich war auch an diesem Tag nicht zur Schule gegangen, und sie hatte nicht versucht, mich dazu zu zwingen. Wir saßen bei Stirling, der sich unruhig im Schlaf hin und her wälzte, das Gesicht rot und aufgedu n sen vom Fieber.
»Worüber?«, fragte ich.
»Über Verpflichtungen. Weißt du, jeder hat irgendeine Verpflichtung. Meine zum Beispiel ist es, für dich und Stirling zu sorgen. Marias ist es, für den kleinen Anselm zu sorgen. Oder im Fall von Pater Dunstan ist es seine Verpflichtung …«
»Ich verstehe schon.«
»Manche Menschen haben Verpflichtungen, die ihnen vie ll eicht nicht unbedingt gefallen, aber trotzdem ko m men sie ihnen nach. Du, Leo, hast die Verpflichtung, die Schule zu besuchen und nicht in Schwierigkeiten zu g e raten oder hinausgeworfen zu werden. Du hast mir und Stirling gegenüber die Verpflichtung, uns zu helfen, wenn wir dich brauchen. Verstehst du das? Menschen können ihre Verpflichtungen nicht einfach ablegen, stimmt ’ s? Denn dann würde das Chaos über uns herei n brechen. Deshalb will ich, dass du morgen ohne zu mu r ren wieder zur Schule gehst. Einverstanden?«
Ich gab keine Widerrede.
Nachdem wir eine Zeitlang geschwiegen hatten, fragte ich: »Denkst du, dass es Stirling besser geht?«
»Nein, ich fürchte, es ist schlimmer geworden.« Wir beobachteten ihn. Er drehte sich um und murmelte etwas. »Ich habe solche Angst, dass er sterben wird, Leo«, sagte sie plötzlich.
»Leise. Er wird dich hören.«
»Ich könnte nicht weiterleben, wenn wir unseren kle i nen Stirling verlieren würden.«
»Das werden wir nicht. In einem Jahr werden wir auf das hier zurückblicken, und es wird nur noch eine Eri n nerung sein. Es wird uns nicht mehr real vorkommen – nicht mehr so wie jetzt.«
»Du hast Recht«, stimmte sie zu – doch sie weinte d a bei. »Ich kann es nicht ertragen, ihn so leiden zu sehen. Aber ich habe nicht die Macht, etwas dagegen zu unte r nehmen. Er ruft nach mir, damit ich ihm helfe, und ich kann es nicht.«
»Das weiß er.«
»Aber stell dir …« Ihre Worte kamen als unkontro l liertes Wimmern heraus. Sie holte hörbar Luft, um sich zu beruhigen. »Stell dir doch mal vor, welche Schmerzen er haben muss. Wenn er wach ist, schreit er die ganze Zeit über nach Hilfe.«
»Schmerzen wie diese sind schnell vergessen. Es h a ben schon viele Menschen das Stille Fieber gehabt.«
»Das stimmt.« Seufzend tupfte sie sich die Augen ab. »Ich mache mir nur deshalb solche Sorgen, weil ich so müde bin.«
»Ich kann heute Nacht bei ihm sitzen, Großmutter«, sagte ich. »Du solltest etwas schlafen.«
Aber Stirling schrie die ganze Nacht durch, sodass am Ende keiner von uns zum Schlafen kam. »Es ist ein S e gen, dass er bald nicht mehr fähig sein wird zu spr e chen«, brummte ich am nächsten Morgen in Gedanken an das nächste Stadium der Krankheit.
»Leo!«, rief Großmutter, und da erinnerte ich mich, dass es mein Bruder Stirling war, über den ich da redete.
»Ich habe das nicht so gemeint«, stieß ich völlig en t setzt hervor. »Ich habe das überhaupt nicht so gemeint.«
Ich ging nicht zur Schule. Sie schien zu müde zu sein, um es auch nur zu erwähnen.
An diesem Nachmittag verlor Stirling seine Stimme. »Das ist vollkommen normal«, sagte Pater Dunstan. »Es heißt, dass diese Krankheit irgendetwas mit den Stim m bändern anstellt. Deine Stimme wird zurückkehren, Sti r ling.«
Ich saß an seinem Bett, während Großmutter in der Küche das Abendessen vorbereitete. Mein Bruder starrte mich an, während ihm die Tränen über die Wangen liefen und seine Augen ängstlich zuckten. »Was ist los, Sti r ling? Warum weinst du?« Er öffnete und schloss den Mund, aber das einzige Geräusch, das herauskam, war das Pfe i fen seines Atems. »Tut dir der Kopf weh?« Er nickte. »Der Hals auch?« Mit einem tonlosen Schluchzen nickte er wieder. »Durch das Weinen wird es schli m mer.«
Er ließ den Kopf zurück auf die Kissen sinken, hörte aber nicht auf zu weinen.
»Ist dir schlecht?« Er nickte. »Was sonst noch?« Er legte eine Hand auf seine Brust. »Tut dir die Brust weh? Dein Herz? Deine Lungen? Fällt dir das Atmen schwer?« Er
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