Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia
nickte wieder.
Die Stille schien mein Gehirn zu zerquetschen. Ich hatte Stirlings ständiges Schreien gehasst, aber es war besser gewesen als das hier. Wenn ich nicht an seiner Seite blieb, würde ich noch nicht mal merken, wenn er tot wäre. »Ich werde dir etwas vorlesen«, schlug ich vor. »Dann wirst du keine Angst mehr haben.«
Ich holte das schwarze Buch. Bei jedem Schritt durch das Zimmer betete ich, dass mehr hineingeschrieben worden war. Ich sah, dass meine Hände zitterten, als ich es aufschlug. Da war ein neuer Abschnitt, der über ein paar Seiten ging. »Soll ich es dir vorlesen?«
Stirling gab keine Antwort, aber er beobachtete mich, noch immer weinend. Ich begann und versuchte dabei, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Diese Geschichte handelte nicht von Aldebaran. Sie war zu dem Mädchen zurückgekehrt; zu diesem Mädchen, von dem Stirling gesagt hatte, dass sie eine englische Verwandte von uns sei. Die Tage, an denen wir zuvor in dem Buch gelesen hatten, schienen jetzt bereits Jahre zurückz u liegen. Ich rieb mir die schmerzenden Augen und b e gann zu lesen.
Als es neun Jahre alt war, erwachte das kleine Mädchen plötzlich aus einem Traum. Und als es sich aufsetzte, war seine Großmutter neben seinem Bett. Emilie hatte früher oft hier gesessen, während ihre Enkeltochter eingeschl a fen war, deshalb erschien es dem Mädchen jetzt nicht seltsam, sie hier zu sehen. »Großmutter! «
»Anna«, sagte Emilie.
Das Mädchen hatte an diesem Nachmittag lange an i h re Großmutter gedacht und an die Tage, an denen sie ihr die ersten Tanzschritte beigebracht hatte. An diesem Nac h mittag hatte sie ihre Ballettschuhe weggepackt. Es gab niemanden, der den Unterricht jetzt noch bezahlen kon n te. Sie hatte geglaubt, das s e s ihr nichts ausmachte, bis sie jetzt ihre Großmutter neben sich sitzen sah.
Anna begann zu weinen. »Sie wollen, dass ich das Tanzen aufgebe.«
»Hör mir gut zu«, antwortete Emilie. »Du darfst es niemals aufgeben.«
Irgendwo jenseits der Dächer schlug gerade eine Kirchturmglocke drei, und Anna setzte sich im Bett auf. Es war niemand da.
Sie stand auf und machte das Licht an. Sie holte ihre Schuhe wieder hervor und zog sie an. Dann begann sie zu tanzen.
Plötzlich stand ihre Mutter in der Tür. »Was machst du da?« Sie hielt das Mädchen am Arm fest. »Antworte mir, Anna.«
»Ich möchte tanzen.«
Annas Mutter hielt weiterhin ihren Arm umfasst, wä h rend sie sich nach unten beugte und ihr ins Gesicht sah. »Hast du geweint, mein Engel? Da sind Tränen auf de i nen Wangen.«
»Großmutter war hier. Sie saß dort neben dem Bett und hat mit mir gesprochen.«
Ihre Mutter ließ ihren Arm los und starrte sie an. Anna konnte sehen, wie sich die Augen ihrer Mutter bewegten, als ob sie versuchte, in ihren eigenen zu lesen. »Vie l leicht war es nur ein Traum«, meinte Anna. »Aber sie hat mir gesagt, dass ich nicht aufhören soll zu tanzen. Bitte, lass mich weitertanzen.«
»Für wie lange?«, fragte ihre Mutter. »Noch ein weit e res Jahr Unterricht?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Für immer.«
In dieser selben Nacht konnte der Junge nicht einschl a fen, deshalb ging er durch das dunkle Haus in die Bibli o thek, wo noch immer Licht brannte.
Aldebaran saß mit einem Stapel Bücher vor sich an e i nem Tisch, doch er sah auf, als der Junge eintrat. »Es ist spät«, sagt e e r. »Schon nach drei, und du solltest längst schlafen.« Lächelnd schob er die Bücher beiseite. »E r zähl mir, was dich bedrückt, Ryan.«
»Onkel?«, begann der Junge. »Das Land, in dem ich früher gelebt habe – meine Heimat –, ich glaube, ich h a be es inzwischen fast vergessen. «
»Du darfst es nicht vergessen.« Aldebaran stand auf.
»Das weiß ich.«
»Komm«, bat Aldebaran. »Komm hier rüber.« Er nahm ein aufgeschlagenes Buch vom oberen Ende des Stapels und blies die Tinte trocken. »Ich werde dir eine Geschichte vorlesen.«
»Was für eine Geschichte?« Der Junge zog sich einen Stuhl an den Tisch.
»Sie heißt Die Goldene Regentschaft . Dies ist das let z te Kapitel.«
Aldebaran senkte den Blick auf das Buch. »Der Verrat an der königlichen Familie«, las er.
Ich brach ab und sah Stirling an. »Das hier kennen wir schon. Der Teil , der jetzt kommt, ist das letzte Kapitel von Vaters Buch. Möchtest du wirklich, dass ich es dir vorlese?« Er nickte kraftlos. Obwohl die Tränen auf se i nem Gesicht nun langsam trockneten, fingen sie noch immer das Abendlicht
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