Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
Vom Netzwerk:
Aber ich antwortete ihr nicht.
    Ich fing nicht wieder an zu sprechen. In dieser Nacht wurde Stirling in einen offenen Sarg gelegt und zur Ki r che getragen, damit wir dort die Totenwache abhalten konnten. Da war nichts zwischen ihm und den Sternen, als wir in stiller Prozession über den menschenleeren Kirchplatz gingen. In der Kirche standen wir alle schwe i gend um den Sarg herum. Fast die ganze Gemei n de war gekommen. Maria weinte den ganzen Abend lang – ich konnte sie auf der anderen Seite sehen –, und ich hasste sie dafür, weil ich selbst nicht weinen konnte. Ich stand einfach da, sah Stirling an, sprach nicht und dachte an nichts.
    Ich musste Stirling ansehen. Sonst hätte ich es nicht für real gehalten. Ich hatte das Gefühl, als ob jemand fehlte, doch gleich würde er hereingerannt kommen, nach oben zu meinem Arm fassen und mich angrinsen. Aber wie könnte er das tun, wo er doch so still in diesem Sarg lag?
    Während ich in Stirlings Gesicht blickte, sah ich mich für einen Moment selbst dort liegen. Ich glaubte, den Verstand zu verlieren. Aber es war nur, weil er aussah wie ich. Ein Teil von ihm war wie ich. Ein Teil von mir war tot. Aber es fühlte sich nicht wie ein Teil an. Es füh l te sich wie mein ganzes Selbst an. Was war mir ohne Sti r ling noch geblieben?
     
    Im Morgengrauen gingen wir nach Hause zurück, um uns für die Beerdigung umzuziehen. Er musste zwischen fünf Uhr morgens und Sonnenaufgang begraben werden. Ich fand, dass wir uns nicht daran halten, sondern ihm eine angemessene Morgenbestattung geben sollten, aber ich sagte nichts.
    »Stirlings Seele ist schon im Himmel«, kam der übl i che salbungsvolle Kommentar von Pater Dunstan. »Er sitzt bereits zu Gottes rechter Hand, egal, ob wir ihn nun vor oder nach Sonnenaufgang beerdigen – da bin ich mir sicher.«
    »Zieh deine Armeeuniform an«, bat mich Großmutter. Sie weinte noch immer, und ihr lief die Nase wie bei e i nem Baby.
    Fast hätte ich in diesem Moment gesprochen; fast hä t te ich gebrüllt, dass Stirling es hassen würde, wenn ich meine Armeeuniform anhätte, aber ich beherrschte mich, ließ sie stehen und zog normale schwarze Sachen an. »Bitte, Leo. Stirling hätte es gefallen, dich adrett zu s e hen – nicht so. Jeder wird denken, dass es dir egal ist.« Ich bohrte die Fingernägel in meine Handflächen, bis Blut floss, und schwieg weiter. »Bitte sprich mit mir, Leo. Warum bist du so still? Ich fühle mich so allein, und mir bricht das Herz.«
    Ich drehte mich weg – es war ohnehin Zeit zu gehen.
    Als ich versucht hatte, Stirling zurückzuholen, war mir alles entglitten und schien noch immer weit entfernt zu sein. Mein Gehirn arbeitete nicht gut genug, um mir den Befehl zu geben, irgendetwas zu empfinden. Ich fühlte mich so betäubt, als wäre ich gar nicht real. So als wäre nichts real. Ich wollte unbedingt weinen, aber ich konnte nicht. Draußen in der Gasse rammte ich meinen Kopf an die Hauswand. Eine Sekunde lang war mir nichts mehr bewusst, außer dem Schmerz in meinem Kopf und der Dunkelheit, die meinen Blick vernebelte.
    »Leo, was tust du da?«, schrie Großmutter und ve r suchte, mich festzuhalten. Ich hatte nicht gemerkt, dass sie aus der Tür gekommen war. »Leo! Hör auf!« Ich le g te die Hand an meinen Kopf und ließ mich gegen die Wand sinken. »Du wirst dich noch verletzen.« Sie ve r suchte, meinen Blick aufzufangen. »Tu das nicht.« Ich schloss die Augen.
    Sie hielt meine Hand, während wir zur Kirche gingen. Ich wünschte, sie würde es nicht tun. Sie verankerte mich damit in der Wirklichkeit. Aber ich weinte noch immer nicht. Je mehr Zeit vergeht, bevor man weint, desto schwerer wird es am Ende.
    Ich hatte das Gefühl, als wäre das alles vielleicht nur ein Scherz. Oder ein Traum. Oder vielleicht hatten wir uns alle geirrt, und er atmete doch noch. Oder vielleicht bildete ich mi r n ur ein, dass er tot war, und er würde gleich die Straße heruntergelaufen kommen, seine Hand in meine legen, und wir würden zusammen zur Messe gehen – ich, Großmutter und Stirling. Aber er tat es nicht. Und in jeder Sekunde, die verstrich, ohne dass er es tat, hatte ich das Gefühl, als ob etwas Wichtiges verl o ren gegangen wäre, und ich durfte nicht aufgeben, bis ich es wiedergefunden hatte. Stirling war nicht da, wo er hingehörte. Er war allein in einem Sarg in der dunklen Kirche, nicht hier bei Großmutter und mir.
    Wir standen neben dem Sarg, als er geschlossen wu r de. Sobald die Sargträger den

Weitere Kostenlose Bücher