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Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia

Titel: Manolia-Zyklus 01 - Das Lied von Malonia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Catherine Banner
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Deckel anhoben, hob ich die Hand, und sie warteten. Ich hatte nicht die Zeit g e habt, mich für immer von ihm zu verabschieden. Ich b e trachtete weiter voller Verzweiflung sein Gesicht, aber Pater Dunstan gab den Männern ein Zeichen, und sie senkten den Deckel auf den Sarg. »Du wirst ihn nicht vergessen, Leo«, versprach er – aber das tat ich bereits.
    Sobald das graue Licht der Morgendämmerung sich in dem indigofarbenen Himmel vor uns aufzulösen begann, zogen wir zum Friedhof. Pater Dunstan führte die Pr o zession an, gefolgt von den ausdruckslos dreinblickenden Sargträgern, dann kamen mit Großmutter und mir die einzigen Familienangehörigen. Es hätten noch andere Verwandte hier sein sollen, aber da waren nur wir zwei. Mutter und Vater waren weit weg, vielleicht tot; Aldeb a ran war tot, Großmutters Eltern waren tot, Großonkel Harald war tot; und wenn Großonkel Harald eine Familie gehabt hatte, dann war sie, falls sie tatsächlich existierte, in England. Oder tot.
    Es war ein stiller Trauerzug, wenn man von unseren gedämpften Schritten, Großmutters leisem Weinen und dem rhythmischen Klimpern des Gefäßes mit dem bre n nenden Weihrauch absah. Er breitete seine Krallen über uns aus. Sein starkes Aroma brannte mir in der Kehle, in den Augen und in den Nasenlöchern . Die beiden Fla m men auf den Kerzen der Messdiener erleuchteten schwach die neblige Dunkelheit vor uns. Jedes Mal, wenn irgendwer hustete oder zaghaft den Atem ausstieß, senkte sich anschließend das Schweigen umso erdr ü ckender über uns.
    Ich war wütend auf mich selbst, weil ich noch immer nicht begreifen konnte, was geschehen war. Stirling ist tot, wiederholte ich ununterbrochen in meinem Kopf. Stirling ist tot. Stirling ist tot. Doch ich wiederholte es wie eine Verszeile und vergaß dabei seine Bedeutung. Ich hörte nicht auf, mich nach ihm in der Prozession u m zusehen. Vielleicht ging er vor sich hin summend weiter vorne mit. Vielleicht würden wir ihn einholen.
    Die Sargträger wurden langsamer, als wir den steilen Abhang erreichten, der hinunter zur Victoire-Brücke führte. Der Sarg neigte sich, und ich dachte an Stirling, der, eingeschlossen in seiner Finsternis, nach unten rutschte. Ich wünschte, ich könnte ihnen sagen, dass sie vorsichtig sein sollten.
    Am Fuß des Hügels standen neben der Zenithar-Rüstungsfabrik zwei junge Soldaten, die sich lachend unterhielten. Als sie uns sahen, hörten sie abrupt auf, nahmen ihre Barette ab, drückten sie sich an die Brust und senkten die Augen zu Boden, während wir vorübe r gingen. Ich hasste sie plötzlich ganz schrecklich, denn sie waren wie ich, nur dass ihre Brüder nicht tot waren, und deshalb konnten sie einfach so lachen.
    Einer der Soldaten sah hoch – auf seinem Gesicht ve r ebbte noch immer das Lächeln –, und ich erkannte, dass es Seth Blackwood aus der Schule war. Erst fünf Min u ten später begann ich mich darüber zu wundern, dass er eine Soldatenuniform trug und Wachdienst für die Armee leistete, aber da hatten wir sie schon weit hinter uns z u rückgelassen.
    Stirling wurde näher am äußeren Ring des Friedhofs begraben als der Sarg, den wir damals dort gesehen ha t ten. Ich dachte an diesen Tag zurück, daran, wie er › Aldeb a ran ‹ entziffert hatt e u nd auf dem Grab herumg e trampelt war, um das Echo eines Sargs zu hören. Und daran, wie er mich gefragt hatte, ob ich Angst hätte, b e vor er sich anschließend ganz nah an mich gedrückt ha t te, als der Priester durch den Torbogen gekommen war, so als könnte ich ihn beschützen, weil ich sein großer Bruder war. Das war Stirling. Das war der Mensch, den wir g e rade beerdigten. Nicht der friedliche, tote Stirling, der aussah, als ob er schliefe, sondern der lebende, a t mende, lachende Stirling – derjenige, der Priester werden wollte und versucht hatte, sich mit einer Zeitung selbst das L e sen beizubringen.
    Am oberen Ende der Grube stand bereits ein kleines Holzkreuz mit der Aufschrift › Stirling Gabriel North ‹ . Das ist sein zweiter Vorname. Gabriel. War sein zweiter Vorname. Und die Daten darunter – nur acht Jahre – w a ren schon Vergangenheit. Dies war das Ende. Sein Leben brach hier ab – wie eine Geschichte, die mittendrin au f hört und niemals fortgesetzt wird, so wie Stirling North nie wieder auf dieser Erde sein würde.
    Ich wollte so wild und unkontrolliert weinen, wie ich es in den Bergen getan hatte. Ich wollte so heftig weinen, bis ich nicht mehr denken konnte, bis all

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