Manta 03 - Ox
in Antolien gegeben, und es konnte sich um ein modernes Ebenbild handeln. Aber die Art war sicherlich gleich.
Erregt ging Aquilon umher und inspizierte den Raum im Detail, um sich von den Schrecken auf Paleo abzulenken, über die sie nicht mehr nachsinnen wollte. Der Putz an den Wänden war tatsächlich eine dünne Schicht aus weißem Lehm. Solide Balken stützten das Dach. Der Fußboden war säuberlich in verschiedene Ebenen unterteilt, als ob beabsichtigt wurde, einzelne Areale zu bezeichnen, wie Linien auf einem Sportplatz. Hier sollte wohl die Schlafplattform mit ihren Schilfmatten sein, dort das Küchenareal. Hier war die Stelle, unter der die Toten der Familie beerdigt wurden, dort die Vorratskammer, gegenwärtig leer.
Die Wände waren tafelförmig bemalt. Einige waren ganz in Rot gehalten, andere zeigten geometrische
Muster, begrenzt von den Darstellungen menschlicher Hände und Füße. Eine Wand wurde von einer vorspringenden Skulptur beherrscht: dem stilisierten Kopf eines Stiers, dessen zwei Hörner sich nach oben wölbten, umgeben von Streben und Simsen, die auf die schreinartige Natur dieser Sektion hindeuteten.
Sie kletterte vorsichtig die Leiter hoch und schob oben ihren Kopf hinaus. Sie sah Dächer einer Stadt, jedes auf einer anderen Ebene, jedes mit einer Eingangsöffnung versehen.
Da waren Menschen. Plötzlich wurde sich Aquilon ihrer Nacktheit bewußt. Sie hatte nie Gelegenheit gehabt, sich anzuziehen, und hatte niemals. so etwas erwartet.
Sie starrten sie an. In wenigen Augenblicken hatten sie sie umringt. Alle waren Frauen: Die wenigen Männer, die ihre Köpfe zeigten, waren mit ein paar herrischen Worten verscheucht worden. Es gab keine Frage, welches Geschlecht hier die Kontrolle ausübte.
Aquilon leistete keinen Widerstand. Die Menschen waren nicht feindlich, nur neugierig. Sie brachten sie in einen anderen Raum und versuchten, mit ihr zu reden, aber ihre Sprache war vollkommen fremd für sie. Und doch war dies ganz vorteilhaft, denn es befreite sie von dem Problem, ihre Gegenwart zu erklären.
Sie nahmen sie in ihre Obhut. Sie war, so schien es, so etwas wie ein Phänomen: eine große blonde Frau in einem Land, dessen Frauen alle klein und dunkelhaarig waren. Sie betrachteten sie als einen Aspekt der Muttergöttin, und Aquilon machte nicht den Versuch, dies zu leugnen. Schließlich war sie erst kürzlich Mutter geworden (ah, dieser Kummer: Wunderten sie sich über ihre Traurigkeit?), und das sah man auch. Bei religiösen Veranstaltungen, von denen es eine beträchtliche Anzahl gab, erwartete man von ihr, daß sie nackt durch die Stadt paradierte, nicht als Lustobjekt, sondern als
Verkörperung der Weiblichkeit. Sie war nackt zu ihnen gekommen, und damit war die Regel geschrieben. Wenn sie sich ohne Hinweis auf ihren Göttinnenstatus unter ihnen bewegen wollte, legte sie eine elegante Robe und Pantoffel an. Sie waren in der Lage, diesen dualen Aspekt zu akzeptieren. Die Dichotornie zwischen Göttin und Frau lag im Wesen ihrer Religion begründet. Es war ein pragmatisches System.
Wenn sie es nicht schon gewußt hätte, würde ihr die Kunst der Stadt verraten haben, daß hier das Matriarchat herrschte. Es gab Gemälde, Skulpturen und Wandteppiche in prachtvollem Überfluß. Diese Menschen waren unermüdliche Künstler. Wände, Töpfe, Lehmstatuetten, Holz, Körbe, Töpferwaren, Waffen und sogar Skelette waren mit Bildern und Mustern versehen. Die Augenbrauen, Wangen und Lippen der Frauen wurden ebenfalls angemalt. Es existierte eine ganze Subindustrie für Farbstoffe - schwarz aus Ruß, blau und grün aus Kupfererzen, rot, braun und gelb aus Eisenoxyden und so weiter. Aquilon hatte sich schon mit der Technik vertraut gemacht und natürlich war sie selbst eine hervorragende Künstlerin, was ihren Status nur noch untermauerte.
Aber in der ganzen Kunst gab es nicht ein einziges Sexsymbol. Keine weiblichen Brüste, keine phallischen Darstellungen, keine anzüglichen Körperhaltungen. Eine von Männern beherrschte Gesellschaft würde von künstlerischen Darstellungen der Lust nur so überquellen. In ihrer eigenen Zeit bedeutete »nackt« immer eine junge, sinnliche Frau. Hier nichts dergleichen: Frauen wurden nicht in dieser Weise motiviert, und obwohl viele der Künstler Männer waren, malten sie unter der Leitung der Priesterinnen.
Sie lernte die Sprache, malte, und es war eigentlich ein gutes Leben. Allmählich legte sich die Trauer um das, was sie zurückgelassen hatte. Die Menschen
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