Mantel, Hilary
will die Eingeweide des Kardinals in einer
Schüssel serviert bekommen, damit sie sie an ihre Spaniels verfüttern kann; sie
will, dass seine Gliedmaßen über die Stadttore von York genagelt werden.«
Es ist ein dunkler Morgen, und
Anne zieht alle Blicke auf sich, aber dann nimmt er eine schattenhafte Bewegung
am Rande des Lichtkreises wahr. Anne sagt: »Dr Cranmer ist gerade aus Rom
zurückgekehrt. Er bringt uns keine guten Nachrichten, natürlich nicht.«
Sie kennen sich; Cranmer hat
von Zeit zu Zeit für den Kardinal gearbeitet, aber wer hat das eigentlich
nicht? Nun ist er in der Sache des Königs aktiv. Zögernd umarmen sie sich: der
Gelehrte aus Cambridge, die Person aus Putney.
Er sagt: »Master, warum
wollten Sie nicht an unser College kommen? Ans Cardinal College, meine ich.
Seine Gnaden war sehr traurig darüber. Wir hätten gut für Sie gesorgt.«
»Ich denke, er wollte etwas
Dauerhafteres«, sagt Anne spöttisch.
»Aber bei allem Respekt, Lady
Anne, der König hat mir fast schon zugesichert, dass er die Stiftung in Oxford
selbst übernehmen wird.« Er lächelt. »Vielleicht kann sie nach Ihnen benannt
werden?«
An diesem Morgen trägt Anne
ein Kruzifix an einer Goldkette. Ab und zu zieht sie ungeduldig mit den Fingern
daran, dann steckt sie ihre Hände wieder in ihre Ärmel. Aufgrund dieser
Angewohnheit meinen die Leute, sie habe etwas zu verbergen, eine Missbildung; er
aber glaubt, dass sie einfach nicht gerne zeigt, was sie auf der Hand hat.
»Mein Onkel Norfolk sagt, Wolsey zieht mit einem Gefolge von achthundert Bewaffneten
umher. Es heißt, er hat Briefe von Katherine - ist das wahr? Es heißt, Rom wird
ein Dekret erlassen, das dem König befiehlt, sich von mir zu trennen.«
»Das wäre ein entschiedener
Fehler Roms«, sagt Cranmer.
»Ja, das wäre es. Weil er sich
nichts befehlen lässt. Ist
er etwa irgendein Küster in einer Gemeinde, der König von England? Oder ein
Kind? Das würde in Frankreich nicht passieren; ihr König hat seine Geistlichen
unter Kontrolle. Master Tyndale sagt: >Ein König, ein Gesetz, das ist Gottes
Ordnung in jedem Reich<. Ich habe sein Buch über den Gehorsam eines
Christenmenschen gelesen. Ich selbst habe es dem König gezeigt und die
Passagen markiert, die seine Autorität betreffen. Der Untertan muss seinem
König gehorchen, wie er seinem Gott gehorchen würde; habe ich den Sinn
erfasst? Der Papst muss in seine Schranken gewiesen werden.«
Cranmer betrachtet sie halb
lächelnd; sie ist wie ein Kind, das man lesen lehrt und das plötzlich eine
glänzende Begabung zeigt.
»Warten Sie«, sagt sie. »Ich
muss Ihnen etwas zeigen.« Sie wirft einen Blick zur Seite. »Lady Carey ...«
»Oh, bitte«, sagt Mary.
»Beachte es nicht.«
Anne schnipst mit den Fingern.
Mary Boleyn tritt ins Licht vor, ein Aufblitzen blonder Haare. »Gib her«, sagt
Anne. Es ist ein Stück Papier, das sie auseinanderfaltet. »Das habe ich in
meinem Bett gefunden, ist das nicht unglaublich? Zufällig war es eine Nacht, in
der dieses kränkliche, kriechende Milchgesicht die Bettwäsche zurückgeschlagen
hat, aber natürlich habe ich nichts aus ihr herausbekommen, sie weint nämlich
schon, wenn man sie nur von der Seite ansieht. Deshalb weiß ich nicht, wer es hineingelegt
hat.«
Es ist eine Zeichnung mit drei
Figuren. Die Figur in der Mitte ist der König. Er ist groß und sieht gut aus,
und damit man ihn auch wirklich erkennt, trägt er eine Krone. Rechts und links
von ihm stehen zwei Frauen, die linke hat keinen Kopf. »Das ist die Königin«,
sagt sie. »Katherine. Und das bin ich.« Sie lacht. »Anne sans tete.«
Dr Cranmer streckt die Hand
nach dem Blatt aus. »Geben Sie es mir, ich vernichte es.«
Sie zerknüllt es in der Hand.
»Das kann ich selbst. Es gibt eine Prophezeiung, dass eine Königin von England
verbrannt werden wird. Aber die Prophezeiung macht mir keine Angst, und selbst
wenn es stimmt, gehe ich das Risiko ein.«
Mary steht wie eine Statue in
der Position, in der Anne sie hat stehen lassen, die Hände verharren so, als
hielten sie noch das Blatt. Oh Gott, denkt er, man müsste sie von hier
wegschaffen, irgendwohin bringen, wo sie vergessen könnte, dass sie eine Boleyn
ist. Sie hat mich einmal darum gebeten. Ich habe sie ihrem Schicksal
überlassen. Und wenn sie mich noch einmal darum bittet, würde ich sie wieder
ihrem Schicksal überlassen.
Anne wendet sich zum Licht.
Ihre Wangen sind hohl - wie dünn sie jetzt ist! -, ihre Augen leuchten. »Ainsi sera«, sagt
Weitere Kostenlose Bücher