Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
Vom Netzwerk:
ist jetzt
etwas über vierzig Jahre alt. Er ist von kräftiger Statur, nicht groß. Sein
Gesicht verfügt über verschiedene Ausdrücke, und einer davon ist lesbar: ein
Ausdruck unterdrückter Belustigung. Sein Haar ist dunkel, voll und gewellt,
und seine kleinen Augen, deren Sehvermögen ausgezeichnet ist, leuchten im
Gespräch auf: Das wird uns recht bald der spanische Botschafter erzählen. Es
heißt, dass er das gesamte Neue Testament auf Latein auswendig kennt, weshalb
er auch ein so fähiger Bediensteter des Kardinals ist - kommen die Äbte ins
Schwimmen, hat er gleich einen Text zur Hand. Er spricht leise und schnell,
sein Auftreten ist selbstsicher; er ist sowohl im Gerichtssaal zu Hause als
auch am Hafen, im Bischofspalast oder im Wirtshaus. Er kann einen Vertrag
aufsetzen, einen Falken abrichten, eine Karte zeichnen, eine Prügelei beenden,
ein Haus einrichten und Geschworene kaufen. Er liefert Ihnen ein Argument der
alten Dichter und Philosophen, wenn Sie eins brauchen, von Piaton zu Plautus
und wieder zurück. Er kennt die neue Poesie, sogar auf Italienisch. Er
arbeitet ununterbrochen, ist der Erste, der aufsteht, und der Letzte, der ins
Bett geht. Er macht Geld und gibt es aus. Er nimmt jegliche Wette an.
    Er steht auf, um zu gehen, und
sagt: »Wenn Sie ein gutes Wort bei Gott einlegten und die Sonne käme heraus,
dann könnte der König ausreiten; und wenn er nicht so bedrückt und verärgert
wäre, würde sich seine Stimmung bessern, er würde vielleicht nicht mehr an das
dritte Buch Mose denken, und Ihr Leben wäre einfacher.«
    »Sie kennen ihn nicht so gut
wie ich. Er mag die Theologie, fast so sehr wie das Ausreiten.«
    Er ist an der Tür. Wolsey
sagt: Ȇbrigens, das Gerede bei Hofe ... Seine Gnaden, der Herzog von Norfolk, beschuldigt
mich, einen bösen Geist heraufbeschworen und angewiesen zu haben, ihm überallhin
zu folgen. Wenn Sie jemand darauf anspricht ... streiten Sie es einfach ab.«
    Er steht in der Tür und
schmunzelt. Auch der Kardinal lächelt, als wolle er sagen: Den guten Wein habe
ich bis zum Schluss aufgehoben. Weiß ich etwa nicht, was Sie glücklich macht?
Dann beugt der Kardinal seinen Kopf über die Papiere. Ein Mann im Dienste
Englands, der kaum Schlaf braucht; vier Stunden reichen ihm, und er wird
bereits wach sein, wenn die Glocken von Westminster einen weiteren nassen,
trüben, lichtlosen Apriltag einläuten. »Gute Nacht«, sagt er. »Gott segne Sie,
Tom.«
    Draußen warten seine Leute mit
Fackeln, um ihn nach Hause zu begleiten. Er hat ein Haus in Stepney, aber jetzt
geht er in sein Stadthaus. Eine Hand auf seinem Arm: Rafe Sadler, ein schmaler
junger Mann mit hellen Augen. »Wie war Yorkshire?«
    Rafes Lächeln flimmert, der
Wind zerrt an der Flamme der Fackel und lässt sie zu einem mageren Glühen
verkümmern.
    »Ich darf nicht davon
sprechen; der Kardinal befürchtet, es bereitet uns schlechte Träume.«
    Rafe runzelt die Stirn. In
seinen neunundzwanzig Jahren hatte er noch nie einen schlechten Traum; er hat
sicher unter dem cromwellschen Dach geschlafen, seit er sieben war, erst in der
Fenchurch Street und jetzt bei den Austin Friars; er ist behütet aufgewachsen,
und seine nächtlichen Sorgen beschränken sich auf das Naheliegende: Diebe,
streunende Hunde, plötzliche Löcher in der Straße.
    »Der Herzog von Norfolk ...«, sagt
er, dann: »Nein, ist nicht wichtig. Wer hat nach mir gefragt, als ich weg
war?«
    Die regennassen Straßen sind
leer, Nebel kriecht vom Fluss herauf. Die Sterne sind durch den Dunst und die
Wolken nicht zu sehen. Über der Stadt liegt der süße Fäulnisgeruch der
gestrigen Sünden, an die man sich nicht mehr erinnert. Norfolk kniet mit
klappernden Zähnen neben seinem Bett; die Feder des Kardinals kratzt
fortwährend wie eine Ratte unter der Matratze. Während ihm Rafe an seiner Seite
einen Überblick über die Neuigkeiten zu Hause gibt, formuliert er sein Dementi
für wen auch immer: »Seine Gnaden, der Kardinal, weist jede Behauptung
entschieden zurück, er habe einen bösen Geist geschickt, um dem Herzog von
Norfolk aufzuwarten. Er verwahrt sich mit aller Unmissverständlichkeit gegen
eine solche Unterstellung. Kein kopfloses Kalb, kein gefallener Engel in
Gestalt eines zähnefletschenden Hundes, kein kriechendes, benutztes
Leichentuch, kein Lazarus oder zum Leben erweckter Kadaver ist von seiner
Gnaden geschickt worden, um seine Gnaden zu verfolgen: noch ist ein solches
Verfahren anhängig.«
    Jemand schreit, unten bei den
Kais. Die

Weitere Kostenlose Bücher