Mantel, Hilary
anzupflanzen. Rafe bringt das
Bündel.
Er zerschneidet das Band und
glättet die Briefe und Memoranden. Diese unappetitliche Affäre begann vor sechs
Jahren in Kent bei einer verfallenen Kapelle am Rande des Marschlands, als eine
Marienstatue Pilger anzuziehen begann und eine junge Frau namens Elizabeth Barton
anfing, ihnen etwas zu bieten. Was machte die Statue eigentlich ursprünglich,
um Aufmerksamkeit zu erregen? Wahrscheinlich bewegte sie sich: oder sonderte
Blutstropfen ab. Das Mädchen ist eine Waise und wurde von einem der
Gutsverwalter Warhams in seinem Haushalt großgezogen. Sie hat eine Schwester,
keine weitere Familie. Er sagt zu Rafe: »Niemand hat von ihr Notiz genommen,
bis sie zwanzig oder so war, und dann hatte sie irgendeine Krankheit, und als
es ihr besser ging, begann sie, Visionen zu haben und in fremden Stimmen zu
sprechen. Sie sagt, sie hat Petrus am Himmelstor mit seinen Schlüsseln gesehen.
Sie hat gesehen, wie der heilige Michael Seelen wog. Wenn jemand sie fragt, wo
seine toten Angehörigen sind, kann sie es ihm sagen. Wenn es der Himmel ist,
spricht sie mit hoher Stimme. Wenn es die Hölle ist, mit tiefer.«
»Das könnte eine komische
Wirkung haben«, sagt Rafe.
»Meinst du? Was für pietätlose
Kinder ich aufgezogen habe!« Er liest, dann sieht er auf. »Manchmal nimmt sie
neun Tage lang keine Nahrung zu sich. Manchmal fällt sie plötzlich zu Boden.
Kein Wunder, oder? Sie hat Krämpfe, Zuckungen und Trancezustände. Es klingt
außerordentlich unangenehm. Sie wurde von Mylord Kardinal befragt, aber ...«,
er sucht in den Papieren, »da ist nichts, keine Aufzeichnung des Gesprächs. Ich
frage mich, was passiert ist. Vermutlich hat er versucht, sie dazu zu bewegen,
ihr Abendbrot zu essen, und das wird ihr nicht gefallen haben. Hier wird
gesagt...«, er liest, »... dass sie in einem Kloster in Canterbury ist. Die
verfallene Kapelle hat ein neues Dach bekommen und bei den Geistlichen dort
geht viel Geld ein. Heilungen geschehen. Die Lahmen gehen, die Blinden sehen.
Kerzen zünden sich von alleine an. Die Pilger drängen sich auf den Straßen.
Warum habe ich das Gefühl, diese Geschichte schon einmal gehört zu haben? Sie
hat eine Schar Mönche und Priester um sich, und die lenken die Blicke der Leute
in den Himmel, während sie ihnen in die Taschen greifen. Wir dürfen annehmen,
dass es sich um dieselben Mönche und Priester handelt, die sie angewiesen haben,
mit ihrer Meinung zur Heirat des Königs hausieren zu gehen.«
»Thomas More hat sie
getroffen. Genauso wie Fisher.«
»Ja, das merke ich mir. Ach
... sieh mal hier ... Maria Magdalena hat ihr einen Brief geschrieben. Mit
goldenen Illuminationen.«
»Kann sie ihn lesen?«
»Ja, scheint so.« Er sieht
auf. »Was denkst du? Der König hält es bestimmt aus, beschimpft zu werden,
wenn es eine heilige Jungfrau tut. Ich vermute, er ist daran gewöhnt. Anne
schilt ihn oft genug.«
»Möglicherweise hat er Angst.«
Rafe ist bei Hofe mit ihm
gewesen; offensichtlich versteht er Henry besser als einige Leute, die ihn
schon sein ganzes Leben lang kennen. »Das hat er in der Tat. Er glaubt an
einfache Mägde, die mit den Heiligen sprechen können. Er ist geneigt, an
Prophezeiungen zu glauben, während ich ... ich denke, wir lassen es eine Weile
so laufen. Stellen fest, wer sie besucht. Wer spendet. Gewisse adlige Damen
haben Kontakt zu ihr aufgenommen, wollten sich weissagen und ihre Mütter aus
dem Fegefeuer beten lassen.«
»Mylady Exeter«, sagt Rafe.
Henry Courtenay, Marquis von
Exeter, ist der nächste männliche Verwandte des Königs, da er ein Enkel des
alten Königs Edward ist. Von daher ist er nützlich für den Kaiser, wenn der mit
seinen Truppen kommt, um Henry rauszuschmeißen und einen neuen König auf den
Thron zu setzen. »An Exeters Stelle würde ich meine Frau nicht um einen
Wirrkopf herumscharwenzeln lassen, um ein Mädchen, das ihren Fantasien, eines
Tages Königin zu werden, Nahrung gibt.« Er beginnt, die Papiere wieder
zusammenzufalten. »Dieses Mädchen, musst du wissen, behauptet, dass sie die
Toten erwecken kann.«
Bei John Petyts Beerdigung
ruft er, während die Frauen oben bei Lucy sitzen, unten am Lion's Quay eine
spontane Sitzung ein, um mit den anderen Kaufleuten über die Vorfälle in der
City zu sprechen. Antonio Bonvisi, Mores Freund, entschuldigt sich und sagt, er
wird nach Hause gehen. »Die Dreifaltigkeit segne euch und lasse euch
gedeihen«, sagt er, als er sich zurückzieht und die bewegliche
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