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Mantel, Hilary

Mantel, Hilary

Titel: Mantel, Hilary Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Woelffe
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hinzu:
»Ich will damit sagen, dass ich sie beraten habe.« Sie lässt ihre Hand auf
seine Schulter gleiten. »Nun, wie sieht es mit uns aus? Es war ein ermüdender
Kampf, sie an diesen Punkt zu bringen. Ich denke, wir haben uns Entspannung
verdient.«
    Keine Antwort.
    »Haben Sie immer noch Angst
vor meinem Onkel Norfolk?«
    »Mary, ich habe furchtbare
Angst vor Ihrem Onkel Norfolk.«
    Dennoch ist das nicht der
Grund, nicht der Grund, aus dem er zögert, halb zurückschreckt. Ihre Lippen
streifen seine. Sie fragt: »Was denken Sie?«

»Ich habe gedacht, wäre ich
nicht der gehorsamste Diener des Königs, könnte ich das nächste Schiff nehmen,
das ausläuft.«
    »Wohin würden wir fahren?«
    Er kann sich nicht daran
erinnern, um Gesellschaft gebeten zu haben. »In östliche Richtung. Obwohl ich
zugebe, dass der Ausgangspunkt nicht so gut ist.« Östlich von den Boleyns,
denkt er. Östlich von allen. Er denkt an das Mittelmeer, nicht an diese
nördlichen Gewässer, und an eine Nacht im Besonderen, eine warme Mitternacht in
einem Haus in Larnaka: an venezianische Lichter, die sich auf das gefährliche
Hafengebiet ergießen, an das Tappen von Sklavenfüßen auf Fliesen, an einen Duft
von Weihrauch und Koriander. Er legt einen Arm um Mary und begegnet etwas
Weichem, völlig Unerwartetem: Fuchspelz. »Klug von Ihnen«, sagt er.
    »Ach, wir haben alles
mitgenommen. Jeden Fetzen. Für den Fall, dass wir bis zum Winter hier sind.«
    Ein Schimmern von Licht auf
Fleisch. Ihr Hals ist sehr weiß, sehr weich. Alle Dinge scheinen möglich, wenn
der Herzog nicht nach draußen kommt. Seine Fingerspitze zieht den Pelz heraus,
bis der Finger auf Fleisch trifft. Ihre Schulter duftet, sie ist warm und ein
wenig feucht. Er fühlt das Schlagen ihres Pulses.
    Ein Geräusch hinter ihm. Er
dreht sich um, den Dolch in der Hand. Mary schreit, zieht an seinem Arm. Die
Spitze der Waffe verharrt auf dem Wams eines Mannes, direkt unter dem
Brustbein. »In Ordnung, in Ordnung«, sagt eine nüchterne, ungehaltene englische
Stimme. »Nehmen Sie das weg.«
    »Himmel«, sagt Mary. »Sie
haben beinahe William Stafford ermordet.«
    Er schiebt den Fremden weiter
nach hinten ins Licht. Als er sein Gesicht sieht, nicht vorher, zieht er die
Klinge zurück. Er weiß nicht, wer Stafford ist: der Pferdebursche von irgendwem?
»William, ich dachte, du würdest nicht kommen«, sagt Mary.
    »Für den Fall scheinst du ja
eine Reserve gehabt zu haben.«
    »Du weißt nicht, wie das Leben
einer Frau ist! Sie denkt, sie hat etwas mit einem Mann verabredet, aber es
stimmt gar nicht. Er sagt, er kommt, und dann erscheint er nicht.«
    Es ist ein Aufschrei, der von
Herzen kommt. »Ich wünsche gute Nacht«, sagt er. Mary dreht sich um, als wolle
sie sagen: Oh, gehen Sie nicht. »Zeit für mich, meine Gebete zu sprechen.«
    Ein Wind bläst vom engen Meer
hinauf, fährt in die Takelagen im Hafen, klappert an den Fenstern weiter im
Land. Morgen, denkt er, könnte es regnen. Er zündet eine Kerze an und kehrt zu
seinem Brief zurück. Aber sein Brief übt keine Anziehungskraft aus. Blätter aus
den Gärten, aus den Obstgärten werden in die Luft gewirbelt. Bilder bewegen
sich hinter dem Fensterglas, Möwen treiben im Wind wie Geister: ein Aufleuchten
der weißen Haube seiner Frau Elizabeth, als sie ihm an ihrem letzten Morgen zur
Tür folgt. Nur dass sie es nicht getan hat: Sie schlief, eingehüllt in feuchte
Laken unter der Steppdecke aus gelbem türkischem Satin. Wenn er an das Geschick
denkt, das ihn hierhergebracht hat, denkt er ebenso an das Geschick, das ihn
zu dem Morgen vor fünf Jahren gebracht hat, als er Austin Friars als
verheirateter Mann mit Wolseys Akten unter dem Arm verließ. War er damals
glücklich? Er weiß es nicht.
    In jener Nacht in Zypern,
inzwischen lange her, stand er kurz davor, bei seiner Bank die Kündigung
einzureichen oder zumindest um Empfehlungsbriefe zu bitten, die ihn nach Osten
bringen würden. Er war neugierig auf das Heilige Land, auf seine Pflanzenwelt
und seine Menschen, wollte die Steine küssen, auf denen die Jünger gewandelt
waren, wollte in den versteckten Vierteln fremder Städte feilschen, in schwarzen
Zelten, wo verschleierte Frauen wie Kakerlaken in die Ecken flitzen. In jener
Nacht war sein Geschick in der Schwebe gewesen. Als  er auf die Hafenlichter
hinaussah, hörte er in dem Raum hinter sich das kehlige Lachen einer Frau, ihr
leises »al-hamdu
lillah«, als
sie die Elfenbeinwürfel in der Hand schüttelte. Er hörte, wie

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